Herbstbringer (German Edition)
andere Richtung schaute. Mehr als einmal schlug sein Plan fehl, und ihre Blicke trafen sich.
Die langen dunklen Haare in Kombination mit der zierlichen Figur und dem verschlossenen Wesen hatten ihn sofort in ihren Bann gezogen. Ihre stille Art und die Aura von zerbrechlicher Schönheit machten es ihm schwer, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Als wäre sie einem düsteren Edgar-Allan-Poe-Gedicht entsprungen, haftete ihrem Wesen etwas Geheimnisvolles an, das inmitten einer lachenden und quatschenden Menschentraube nur noch stärker zum Vorschein kam.
Jake wusste nicht, was er außergewöhnlicher finden sollte: dass er das erste Mal mehr als freundschaftliche Gefühle für ein Mädchen empfand oder dass seine Schwärmerei sogar auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien.
Viel zu schnell gesellte sich Sophie wieder zu ihnen und stopfte sich eine Handvoll Popcorn in den Mund.
»Dann mal los. Ich will auf keinen Fall die Vorschau verpassen. Ich hab gehört, dass sie heute extra viele Horrortrailer zeigen.«
Sie folgten ihr schweigend in den dekorierten Saal. Spinnweben, Totenköpfe und jede Menge Kürbisgesichter erwarteten die Besucher. Natürlich saßen Emily und Jake nebeneinander – dafür hatte Sophie gesorgt.
»Viel Spaß euch«, raunte sie verschwörerisch, dann erloschen auch schon die Lichter.
Emily wunderte sich über sich selbst: Sie begann tatsächlich, diese Filmnacht zu genießen. Der erste Film entlockte ihr im Gegensatz zu Sophies erschreckten Schreien zwar nur ein müdes Gähnen. Die Dunkelheit des Saals war jedoch durchaus nach ihrem Geschmack. Mehr als einmal hatten sich ihre und Jakes Hand rein zufällig auf der Armlehne berührt. Bald wurde daraus ein Dauerzustand, der Emily vollständig vom Film ablenkte.
Viel zu schnell war es vorbei. Emily verfluchte die gnadenlos aufflammende Saalbeleuchtung und zog hastig ihre Hand beiseite.
»Ist die Pause lang?«, fragte sie unschuldig, während sich Jake um Popcornnachschub kümmerte.
»Zehn Minuten, dann kommt der nächste Film.«
Sophie nutzte Jakes Abwesenheit für ein vertrauliches Wort und rutschte auf seinen Sitz. »Und?«, fragte sie grinsend.
»Und was?«, fragte Emily unschuldig.
»Wie findest du ihn?«
»Er ist nett.«
»Was denn – nur nett? Das sah aber bisher ganz anders aus.« Sie knuffte ihr verschwörerisch in die Rippen. »Komm schon. Er gefällt dir, nicht?«
Emily seufzte. Manchmal konnte Sophie wirklich nerven. Andererseits hatte sie voll ins Schwarze getroffen. »Also schön, wenn du dann endlich Ruhe gibst. Ich finde ihn interessant. Zufrieden?«
»Klar«, erwiderte Sophie kichernd, »du auch?«
Jakes Rückkehr ersparte Emily die Antwort. Endlich wurde es wieder dunkel im Saal, und der zweite Film begann. Mittlerweile war es Emily völlig egal, wer oder was die Zuschauer diesmal das Fürchten lehren wollte. Hauptsache, es dauerte möglichst lange.
Doch sosehr sie weiteren zufälligen Berührungen in der schützenden Dunkelheit des Saals auch entgegenfieberte, konnte sie sich auf einmal nicht mehr entspannen. Irritiert widmete sie sich der Handlung des Films. Er war anders, das spürte Emily sofort. War ihr bei dem maskierten Killer zuvor eher zum Lachen zumute gewesen, hatte dieser Streifen eine gänzlich andere Atmosphäre. Das fing schon bei seinem Hauptcharakter an, einem wirklich beunruhigenden Kerl, der sie unweigerlich in seinen Bann zog. Die Musik, die Farben, die Ausstrahlung der Szenen gingen ihr auf eine Weise nah, die sie bei einem Film niemals für möglich gehalten hätte. Jakes Hand war urplötzlich vergessen.
Sie verfolgte die düstere Handlung belastet von einem unangenehmen Gefühl der Vorahnung. Doch das war unmöglich. Sie hatte diesen Film noch nie zuvor gesehen. Oder?
Etwas in ihr schrie, dass sie der rätselhafte Hauptdarsteller an jemanden erinnern sollte. Und das war keineswegs eine angenehme Erinnerung.
»Wie heißt dieser Film?«, fragte sie Jake leise.
» Dracula «, flüsterte er. Dass seine Lippen dabei fast ihr Ohr berührten und sie seinen Atem an ihrem Hals spüren konnte, hätte sie eben noch schwindelig werden lassen. Jetzt stand diese unerklärliche Beunruhigung zwischen ihr und Jake. »Ist ein alter Film aus den Fünfzigern. Ziemlich gut gemacht dafür, hm?«
Sie nickte geistesabwesend. Von Dracula hatte sie bislang nur flüchtig gehört. Der Roman stand in Sophies Bücherregal, hatte sie bisher allerdings nicht interessiert.
Dann passierte es. Gerade als Emily ihr
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