Herbstbringer (German Edition)
eilte Nosophoros seinem Ziel entgegen. Er durfte nicht länger warten.
»Lass mich los!« Emily stemmte sich gegen den eisernen Griff der verhüllten Gestalt. Zwecklos. Wer immer sie durch die staubigen Korridore dieser längst vergessenen Unterwelt führte, hatte weitaus mehr Kraft, als es seine schmale Figur vermuten ließ.
»Dafür haben wir keine Zeit, werte Dame«, zischte eine vertraute Stimme gehetzt, ohne langsamer zu werden.
»Verdammt, Willie«, keuchte sie. Erleichterung flutete sie, dicht gefolgt von Empörung. »Was soll das? Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt.«
Endlich verlangsamte der Untote sein halsbrecherisches Tempo. Dem Geruch nach mussten sie sich wieder nahe des unterirdischen Stroms befinden. »Elias schickt mich. Auch er hat sich auf die Suche nach Ihnen gemacht. Bei den Gebeinen des Theaters, etwas rührt sich in der Dunkelheit. Etwas, das hinter Ihnen her ist – hinter uns! Elias geht davon aus, dass man Ihre Fährte aufgenommen hat.« Er drehte sich um, und erstmals entdeckte Emily etwas anderes als Amüsement und Unbeschwertheit in seinen Zügen. Willie hatte Todesangst. »Elias, er … er ist wütend. Sehr wütend. Der arme Ambrose wird sich einiges anhören müssen. Er hat geschrien, Lady, laut geschrien und unsere Zukunft infrage gestellt. So wütend habe ich ihn nicht mehr erlebt seit …« Er hielt einen Moment inne. »Nein, so wütend habe ich ihn eigentlich noch nie erlebt.«
War Ambrose etwa ihretwegen in Schwierigkeiten?
»Das wollte ich nicht«, hauchte sie.
Doch für ein schlechtes Gewissen blieb ihr keine Zeit. Schon trieb Willie sie weiter, immer darauf bedacht, seinen überraschend starken Griff um ihren Arm nicht zu lockern.
»Natürlich wollten Sie das nicht. Doch nun kommen Sie. Wir müssen Sie aus diesen Tunneln rausbringen. Sie sind nicht mehr sicher hier.«
»Ich weiß wirklich nicht, ob wir da hochsollten«, meinte sie zweifelnd, als sie vor der Steintreppe ankamen. Aufgebrachte Stimmen drangen durch die geschlossene Falltür zu ihnen hinunter. Emily wollte Elias in diesem Zustand wirklich nicht gegenübertreten.
»Sie sollten sich nicht länger als unbedingt nötig hier unten aufhalten«, entgegnete Willie mit einem prüfenden Blick in die hinter ihnen liegende Dunkelheit. Emily tat es ihm gleich. Obwohl er ihr in der Eile die Augen nicht verbunden hatte, hatte sie auf dem Weg nicht viel erkennen können.
»Diese Tunnel«, sagte sie nachdenklich. »Wo führen die hin?«
Willie hatte schon mit dem Aufstieg begonnen und machte sich am Schloss der Falltür zu schaffen. »Überallhin, werte Lady. Das ist ja das Problem.«
20
Emily sah sofort, dass Willie nicht übertrieben hatte. Wie ein erzürnter Rachegeist thronte Elias über Ambrose, der mit eingezogenen Schultern in seinem Sessel saß, sein Buch wie zum Schutz gegen diesen Sturm emporgereckt.
Als sie das Wohnzimmer betreten wollte, hielt Willie sie zurück. »Das würde ich nicht tun«, flüsterte er. »So leid mir Ambrose auch tut, würde ich jetzt dennoch nicht dazwischengehen.«
»Ja, schon gut«, gab Emily zurück.
»Levana!« Elias’ befehlende Stimme ließ sie verharren. Sie zuckte bei ihrem richtigen Namen zusammen, schluckte die scharfe Bemerkung angesichts der Umstände aber lieber herunter. »Wir müssen reden.«
Willie huschte an ihr vorbei, gefolgt von einem sichtlich eingeschüchterten Ambrose, der ihr im Vorbeigehen einen schwer zu deutenden Blick zuwarf.
Emily war erleichtert, keine Anklage darin zu erkennen, atmete tief durch, nahm die Schultern zurück und betrat das Wohnzimmer. Hartnäckig versuchte sie sich einzureden, dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte. Er hatte nicht das Recht, sich so aufzuspielen.
»Ich muss also erst gegen deine Regeln verstoßen, bevor du endlich mit mir redest?«, fragte sie betont kühl, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie sah es nicht ein, die Schuldige zu spielen.
»Regeln«, erwiderte Elias jetzt mit leiser, fast entschuldigender Stimme. »Niemand hat je irgendwelche Regeln erwähnt. Ich war schlicht und ergreifend krank vor Sorge. Die Tunnel sind nicht sicher, und auch in der Welt da draußen lauern zu viele Gefahren. Selbst bei Tag, das weiß ich jetzt, Levana.« Er blickte sie ernst an.
»Bitte«, sagte sie mit einem unmerklichen Zittern, »nenn mich nicht so.«
»Und doch ist das dein Name.« Er atmete schwer. »Aber meinetwegen. Emily, es war nie mein Bestreben, dich hier festzuhalten. Doch ich weiß, dass
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