Herbstbringer (German Edition)
dazwischen. Schon war unnahbare Härte in sein Wesen zurückgekehrt.
»Glöckchen, sie … sie ist weg.«
Elias verengte die Augen. »Was soll das heißen, sie ist weg?« Er machte einige Schritte auf die beiden eingeschüchterten Gestalten in der Tür zu. »Kannst du dich bitte klar und deutlich ausdrücken?«
»Ich, das kann ich, ja, aber …«, stotterte Rufus mit Panik in den Augen.
»Was Rufus sagen will, ist, dass sie nicht zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Ort aufgetaucht ist.«
Rufus nickte dankbar. »Ich habe deutlich länger gewartet und auch die anderen Treffpunkte abgesucht. Nichts. Sie ist weg. Verschwunden.«
Elias stand wie versteinert im Wohnzimmer. Eine Weile herrschte Stille.
»Was ist daran so schlimm?«, fragte Emily zaghaft, als die Ruhe unangenehm zu werden begann.
»Und du bist dir sicher, dass ihr diesen Treffpunkt ausgemacht hattet?« Elias überhörte ihre Frage. »Und ich meine wirklich sicher?«
»Ich fürchte, daran gibt es keinen Zweifel.«
»Dann ist geschehen, was ich befürchtet habe. Uns bleibt keine Zeit mehr.« Er eilte in den Flur. »Ambrose!«, brüllte er ins obere Stockwerk hinauf, stürzte gleich darauf ins Wohnzimmer zurück und schnappte sich seinen Mantel vom Sofa. Auch Rufus und Willie waren in hektisches Gewusel verfallen.
»Wir müssen verschwinden. Schnell, pack deine Sachen!«
Emily kam nicht mehr mit. Perplex stand sie da, ihr Gesicht ein einziges großes Fragezeichen. »Kann mir mal jemand erklären, was hier los ist?«
»Dafür ist jetzt keine Zeit«, sagte Elias nur, während er die zugenagelten Fenster prüfte.
Das sah Emily ganz anders. »Dafür muss Zeit sein«, sagte sie schneidend und legte alle verfügbare Schärfe in ihre Stimme. »Ich werde nirgendwo hingehen, bevor du mir nicht gesagt hast, warum du all das wirklich auf dich nimmst.«
Einen Moment lang schien es, als würde Elias nicht antworten. Dann drehte er sich langsam zu ihr um. »Weil du mich am Leben gelassen hast, Herbstbringer!« Er trat auf sie zu, wollte ihre Hände ergreifen. Dann überlegte er es sich anders und rammte sie in seine Hosentaschen. »Deinetwegen bin ich noch am Leben, weißt du nicht mehr?«
Wieder rieselten vage Erinnerungen in ihren Verstand.
Die kleine Voliere, die Elias ihr geschenkt hatte. Der Empfang, bei dem ihre Heirat beschlossen worden war. Ihre offene Rebellion – und, klarer denn je, ihre Weigerung, Elias zum Zeichen ihrer Familientreue, als letzte Rettung ihrer Ehre, zu töten. Der Tropfen, der das Fass ihres Ungehorsams unwiederbringlich zum Überlaufen gebracht hatte.
Elias senkte die Stimme. »Du solltest mich töten. Als Zeichen deiner Familientreue. Als Stärkebeweis, den dein Vater von dir verlangt hatte. Wir waren einander versprochen, und dein Mord an jemandem, der dir nahestehen sollte, hätte vielleicht ausgereicht, den Rat milde zu stimmen. Nicht sehr romantisch, das gebe ich zu. Aber effektiv. Vampirfamilien ist nichts heiliger als ihre Ehre. Genau genommen ist ihnen zwar gar nichts heilig, doch ihre Ehre nimmt den höchsten Stellenwert ein. Eine Tat wie diese hätte bewiesen, wie stolz deine Familie ist, wenn eine von ihnen selbst eine solche Tat begeht, um die Ehre zu erhalten. Verdammt, andere haben ihre eigenen Kinder oder Mütter getötet, um die Ehre sicherzustellen.«
Glasklar sah sie es vor sich. Ein Schauer kroch ihr mit eisigen Fingern über den Rücken. Sie hatte sich geweigert, ihn zu töten. Sich erneut dem Rat, ihrer Familie und insbesondere ihrem tryannischen Vater widersetzt. Die Folge war der Fluch gewesen. Und die bestialische Strafe.
»Deswegen hast du mich gerettet.«
Elias antwortete nicht.
21
Eingehend betrachtete er das Haus von der anderen Straßenseite. Das Haus, in dem sich der Herbstbringer aufhielt. Eine Flut unterschiedlicher Emotionen spülte durch seinen Körper, als er daran dachte, dass das Versteckspiel sehr bald vorüber sein würde.
Das Ende hatte begonnen.
Er kam nicht umhin festzustellen, dass tatsächlich auch ein bisschen Glück an der Entwicklung der Ereignisse beteiligt gewesen war. Wer hätte gedacht, dass er in Form des Jungen so einfach an ein Druckmittel kommen würde, um die Rebellin sozusagen vogelfrei werden zu lassen. Er war ihr gefolgt wie ein Welpe seinem Herrchen, war rastlos durch Londons Straßen geirrt – und zufällig Aaron in die Arme gelaufen.
Unruhig strich der Wind durch die leere Straße. Das nasse Laub glänzte matt und ölig im Schein der trüben Laternen,
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