Herbstbringer (German Edition)
gegenseitig. Wann die Menschen aufgehört hatten, an sie zu glauben, konnte er gar nicht mehr genau bestimmen.
Glauben … Michael schüttelte verbittert den Kopf. Man musste nicht an etwas glauben, das es gab. Es war eine typische Eigenschaft dieser armseligen Spezies Mensch: Glauben an die Wissenschaft, Glauben an das Gute, Glauben an Gott …
Oh ja, Gott. Es gab so viele offene Rechnungen, doch er entledigte sich lieber seines Nachwuchses. Nach allem, was er geopfert hatte, kam ihm das reichlich lächerlich vor. Sie hatten so viel aufgegeben, hatten sich immer in Sicherheit gewiegt, die Menschen jederzeit wieder unterdrücken zu können. Dann war sie aufgetaucht und hatte ihre Welt ins Wanken gebracht. Noch immer hatten die verhärteten Fronten der vier Familien regelmäßig Verluste zu beklagen. Der kleine Sandkastenstreit der Montagues und Capulets war nichts dagegen.
Er blieb vor einem beeindruckenden Porträt stehen. Es zeigte ihn vor einem dunklen Hintergrund, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Der große Edward Burne-Jones hatte es, zunächst widerwillig, dann plötzlich überaus enthusiastisch vor über hundertfünfzig Jahren angefertigt – und doch hätte es auch letzte Woche entstanden sein können. Michael war keinen Deut gealtert. Der glorreiche Segen der Unsterblichkeit. Wirklich verstanden hatte er es immer noch nicht. Es gab Vampire, die einige Jahrhunderte jünger waren als er und dennoch nicht mehr als ein Schatten ihrer einstigen Gestalt. Erbärmliche Greise, die in einer sich stetig verändernden Umgebung stur gegen Hauswände liefen, weil es hier vor zweihundert Jahren noch einen Durchgang gegeben hatte. Er vermutete, dass es etwas mit Blut zu tun hatte, mit Willenskraft. Unsterblichkeit war nicht einfach. Sie hatten einen hohen Preis dafür bezahlt, als sie sich gegen ihren Herrscher gestellt hatten. Und doch schien das Pfand ihrer Seele ein verschwindend geringer Preis für die Hoheit über diese Welt bis ans Ende der Zeit. Gedankenverloren betrachtete er das Bild.
Nox nostra est stand in schweren Lettern darunter. Uns gehört die Nacht …
Er lachte. Ein heiseres, unnatürliches Geräusch, das sich selbst darüber wunderte, aus dieser Kehle gekrochen zu sein.
Die Zeiten hatten sich wirklich geändert. Wo waren sie hingekommen, dass er sich in einer dreckigen Gasse an ungenießbarem Blut gütlich tat wie ein feiger Meuchelmörder?
Das Lachen verstummte so abrupt, wie es begonnen hatte.
Er, Anführer der ersten Vier, in solch einem unwürdigen Zustand! Auch er hatte jenen verspottet, der vor endlosen Zeitaltern noch vor ihnen versucht hatte, den Fesseln zu entkommen. Wie hatten sie sich über seine eifersüchtige Rebellion amüsiert und ihm gegenüber ihren eigenen Plan verherrlicht. Sicher, er war verdammt worden und hatte seine gerechte Strafe erhalten.
Doch wo stand er jetzt? Und wo standen sie?
Er ballte die Hände zu Fäusten und eilte weiter.
Alpha und Omega hatte Michael schon immer sein wollen, hatte diese Grundmaxime stets auf offiziellen Dokumenten, seinem Testament und auf vielen Porträts verewigt.
Der Anfang und das Ende.
Und während er zweifellos am Anbeginn seiner Art stand, hing seine einzige Möglichkeit, auch ihr Ende zu sein, von dem Erfolg seines wohl wichtigsten Kampfes ab.
So konnte es nicht weitergehen. Direkt nach Schulschluss machte Emily sich zu Jake auf. Mittlerweile war es ihr sogar egal, ob sie seinem Großvater begegnen würde. Sie machte sich mittlerweile große Sorgen um ihn.
Sie klingelte, zur Hälfte darauf gefasst, Mr Graham gegenüberzustehen, zur anderen Hälfte in einer Welt aus Herzklopfen, stürmischen Umarmungen, Zuneigungsbekundungen. Sie würde ihm sagen, wie oft sie seine CD s in London gehört hatte, er würde erzählen, wie schrecklich es ohne sie in Woods End gewesen war …
Stattdessen passierte gar nichts.
Sie klingelte erneut, diesmal deutlich vehementer.
Hartnäckig ließ sie ihren Zeigefinger in kurzen Abständen auf den Klingelknopf prallen. Wenn, dann wollte sie wenigstens sichergehen, dass er wirklich nicht zu Hause war.
Die Tür öffnete sich.
»Hallo.« Jake sah schrecklich aus. Tiefe Augenringe durchfurchten sein Gesicht, die Haare hingen wirr an den Wangen herab. Er blinzelte in das schwache Licht des regnerischen Tages, als wäre es strahlender Sonnenschein.
Von Herzklopfen keine Spur.
Wer ist hier der Vampir? , dachte sie in einem Anflug von Galgenhumor. »Jake, um Himmels willen, was ist passiert?«, fragte
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