Herbstbringer (German Edition)
sonst?«
»Nun, anscheinend haben du und dieser schäbige Jäger keinen Erfolg gehabt«, erwiderte er abfällig. Seit Balthasars Ankunft hatte er ihn keines Blickes gewürdigt. Jetzt drehte er sich in einer fließenden Bewegung um und blickte ihn direkt an. »Wieso hat das Orakel keine Prophezeiung über ihren Aufenthaltsort ausgesprochen?«
»Im Gegensatz zu dir war ich lange nicht bei ihr.« Balthasar verengte die Augen. »Solltest du dir diese Frage nicht selbst beantworten können? Wer weiß, welche Lügen dir das Orakel in der Dunkelheit anvertraut hat.«
Da war er gewesen. Der letzte Beweis. Für einen kurzen Moment hatte Michael hinter Balthasars Fassade blicken können und die Wahrheit gesehen.
Balthasar wusste Bescheid.
Nun gab es kein Zurück mehr.
»Ah, interessant, dass du das sagst.« Jetzt schritt auch Michael an die Bar und griff zu einer Whiskeyflasche. »Nun, als Lügnerin ist das Orakel nicht gerade bekannt, nicht wahr?«
Balthasar reagierte nicht. Er schaute konzentriert aus dem Fenster. Michael konnte seine Gedanken beinahe rattern hören.
Getragene klassische Musik verlieh der Stille zusätzliche Schwere. Hätte Balthasar genauer hingehört, wäre er vielleicht Hals über Kopf geflohen. Michael entschied sich nie wahllos für Musik.
»Nein, ist sie nicht«, beantwortete Michael genüsslich seine eigene Frage. Er hatte das leise Klicken vernommen, als Radcliffe die schweren Flügeltüren von außen verriegelt hatte.
»Bisweilen ist es etwas schwierig, die Wahrheit aus ihren Aussagen herauszulesen. Gewiss, nach all den Jahren entwickelt man ein Gespür für ihre Weissagungen …«
Bemüht ruhig erwiderte Balthasar: »Und, was willst du mir damit sagen? Was ist schon dabei, dass es das Orakel nicht vorhergesagt hat? Vielleicht hast du ja auch nur ihre Prophezeiung falsch verstanden.«
»Oh, das ist durchaus möglich.« Michael trat näher an Balthasar heran und blickte ihm tief in die Augen. »Viel interessanter fand ich allerdings, was das Orakel über dich gesagt hat.«
Bemerkenswert schnell legte Balthasar einen Schalter um. Eine Sekunde lang wirkte er wie vom Blitz getroffen, dann hatte er sich wieder im Griff. »Und? Überrascht es dich etwa?«, zischte er. Er wusste genau, dass er sich jedes weitere Wort sparen konnte.
Michael deutete ein Kopfschütteln an und kräuselte seine schmalen Lippen. »Nein. In gewisser Weise macht es mich sogar stolz. Oder sagen wir besser: Es würde mich stolz machen, wenn du nicht versagt hättest.«
Dunkle Chöre schwollen an.
»Versagt!«, spuckte Balthasar aus. »Unsere Definition dieses Begriffes unterscheidet sich erheblich. Schäbige Gassenmorde sind in meinen Augen nicht gerade das, was einem Oberhaupt gut zu Gesicht steht.«
Ohne Michael aus den Augen zu lassen, leerte er sein Glas mit einem tiefen Zug.
»Und, wen hast du angeheuert?«, fragte er bemüht beiläufig. »So feige wie du bist, wirst du es doch niemals alleine tun. Geschweige denn schaffen …«
»Was für ein erbärmlicher Versuch, zynisch zu sein – wie immer.« Michael schnalzte mit der Zunge. »So mangelhaft wie dein Putschversuch. Und jetzt zeig mir, was du weißt.« Auf einmal war Michael ganz dicht bei Balthasar. In der grausamen Parodie einer liebevollen Geste strich er seinem regungslosen Gegenüber über die Wange. »Gib dein Wissen lieber freiwillig preis. Wo ich doch so schwach bin, habe ich bestimmt Verstärkung im Rücken, falls du dich als … unkooperativ erweisen solltest.«
Balthasar starrte ihn nur stumm an.
»Ganz der Märtyrer, was? Glaub mir, da habe ich schon ganz andere Kaliber gesehen.«
Ohne ein weiteres Wort packte er Balthasars Kopf mit seinen gepflegten Händen und blickte ihm tief in die Augen. »Ah ja, immerhin etwas«, sagte er wenig später. »Nun entschuldige mich. Du weißt, was jetzt kommt. Nicht sehr schön anzusehen.«
»Elender …« Weiter kam Balthasar nicht. Wie aus dem Nichts tauchten neben ihm zwei hünenhafte Gestalten aus den tiefen Schatten des Raumes auf.
»Und ich dachte wirklich, du würdest mich zu einem stolzen Vater machen«, sagte Michael leise. Dann verließ er den Raum durch eine verborgene Tür. Balthasars Flehen wurde unter dem stürmisch aufwallenden Klagen von Mozarts Requiem begraben.
Sie war nicht zu Jake gegangen. Stattdessen hatte sie sich in der Stadt rumgetrieben und war schließlich im Park gelandet.
Für kurze Zeit hatte sie versucht, dem Herbstwind zuzuhören. Aber sie kam sich dabei total
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