Herbstbringer (German Edition)
Wieder erinnerte sie sich nicht an alle Einzelheiten oder Details aus ihrem früheren Leben, erlangte aber das überwältigende Gefühl zurück, das Richtige getan zu haben.
Sie würde es jederzeit wieder tun.
Diesmal erwartete sie die Reaktion des Herbstwindes wie die Antwort auf eine Frage. Er fegte durch die Straße, türmte das Laub zu regelrechten Wänden auf und schüttelte heulend an den Ästen.
Völlig unbeeindruckt von den Geschehnissen um sich herum trat sie auf die Straße, direkt auf den Vampir zu. Es erfüllte sie mit einer unglaublichen Genugtuung, Zweifel in seinem Gesicht aufflammen zu sehen. Der Wind legte sich schützend um sie wie ein Kleid aus Blättern, ließ rötlich-braunes Laub überall um sie herum durch die Luft trudeln und machte es dem Fremden schwer, den Überblick zu behalten.
Noch eine Minute.
Der Bus bog um die Ecke.
Jetzt oder nie. Emily rannte los, verfiel unbewusst in ein halsbrecherisch hohes Tempo. Sie musste dem Vampir den Rücken zukehren, immer darauf gefasst, jeden Moment seinen fauligen Atem in ihrem Nacken zu spüren.
Sie blickte nicht zurück.
Wenige Augenblicke später hatten sich die zischenden Bustüren hinter ihr geschlossen.
Aaron sah dem Bus lange nach. Neben Blutdurst, Mordlust und Gewissenlosigkeit blitze noch etwas anderes in seinen Zügen auf. Etwas, das ihm nicht gefiel, weil es die Dinge komplizierter machen könnte.
Respekt.
Unter der Stadt rührte sich etwas. Dort, wo sich schon seit Jahrhunderten vergessene Tunnel durch das Erdreich fraßen, wo die verfallenen Gebeine alter Säulen und Behausungen von einem London erzählten, das hier vor unzähligen Jahrhunderten gestanden hatte, ging ein Ruck spürbarer Erwartung durch das Gemäuer.
Aufgeregtes Kratzen erklang in den eingestürzten Katakomben, die tief unter den Fundamenten der Metropole den Restrukturierungsmaßnahmen der Moderne getrotzt hatten und in ihren verwitterten Steinsärgen noch immer die Asche längst vergessener Personen beherbergten. Schemen huschten durch die feuchte Dunkelheit, schreckten das brackige Wasser der stillgelegten Kanalisationsbecken auf und stoben einem gemeinsamen Ziel entgegen. Sie hatten den Ruf gehört.
Ihr Meister war zurückgekehrt.
London empfing sie von seiner besten Seite. Regen trommelte auf das Dach der St Pancras Station und lief an den großen Fenstern herunter. Emily stellte noch in der Bahnhofshalle fest, dass sie vergessen hatte, Regensachen einzupacken.
Verloren stand sie inmitten der Menschenmenge, die sich an diesem Freitagnachmittag von der Arbeit ins verdiente Wochenende schob. Sie war noch weit davon entfernt, zu realisieren, dass sie das einzige Zuhause, das sie je gekannt hatte, tatsächlich für immer hinter sich gelassen hatte. Dafür machte sich mehr und mehr die Gewissheit in ihr breit, nicht den blassesten Schimmer zu haben, was sie jetzt tun sollte. Eine leise, hoffnungslos romantische Stimme in ihr hatte zwar während der Zugfahrt gehofft, dass Elias vielleicht bereits am Gleis auf sie warten würde. Doch das tat er natürlich nicht.
Nach einigen weiteren Minuten, in denen sie herumgeschubst, ungeduldig angestarrt oder schlichtweg ignoriert wurde, fasste sie einen Entschluss. Sie würde sich erst mal ein stilles Plätzchen suchen, wo es etwas Warmes zu trinken gab, und ihre Gedanken ordnen.
Kaum war sie aus dem Bahnhofsgebäude getreten, stellte sie zweierlei fest: Selbst hier draußen, unter dem zugegebenermaßen wunderschönen viktorianischen Eingangsbogen, war es keineswegs ruhiger. Dafür aber nasser. Innerhalb kürzester Zeit klebten ihr die langen Haare in losen Strähnen im Gesicht. Sie vergrub die Hände in den Manteltaschen und blickte ratlos umher. Schwarze Taxis bahnten sich hupend ihren Weg, Passanten verbargen sich unter grauen Regenschirmen oder behelfsmäßigen Zeitungen, sogar einer der roten Busse zwängte sich durch die vollen Straßen. Immerhin erblickte sie einen WHS mith unter den Geschäften. Buchläden beruhigten sie, und auch, wenn sie es nicht betrat, tat es ihr gut.
Wie sollte sie hier, inmitten dieser unübersichtlichen Masse an Leuten, Elias finden? Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie ein kleines Café. Das musste für den Anfang reichen.
Nach einer wohltuenden Tasse Tee überdachte sie ihre Möglichkeiten. Bei ihrem ersten Treffen hatte Elias sie gefunden, nicht umgekehrt. Wie auch immer er das angestellt hatte: Er konnte es doch bestimmt wieder tun. Der Gedanke schien ihr logisch –
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