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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Björn Springorum
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verbannen.
    Sie schnappte sich ihren Schulrucksack, schüttete den Inhalt achtlos in eine Ecke und stopfte ihren dunkelgrünen Parka, wahllos Kleidungsstücke, ein paar Bücher und die CD , die Jake ihr zusammengestellt hatte, hinein. Nach kurzer Überlegung steckte sie auch noch ihr Lieblingsfoto von Jake ein. Am Anfang war alles so klar gewesen. Jetzt war es ein großer Scherbenhaufen.
    Hartnäckig drängte sich ein schlechtes Gewissen ihren Eltern und Sophie gegenüber, sowie Sorge um Jake in ihr Bewusstsein. Sie hatte ihm nicht gesagt, wie gern sie ihn an ihrer Seite gehabt hätte, wie gern sie einfach mit ihm abgehauen wäre.
    Der nächste Bus in Richtung London fuhr in gut zehn Minuten. Sie wollte auf keinen Fall eine Stunde länger warten. Sie legte noch Briefe in Sophies Zimmer und ins Schlafzimmer ihrer Eltern, und mit dem bitteren Geschmack des Abschieds auf der Zunge atmete sie den Geruch des Hauses – ihres Zuhauses – ein letztes Mal ein. Sie schulterte den Rucksack, holte tief Luft, als würde sie sich auf einen Tauchgang vorbereiten, und öffnete die Tür.
    Auf der anderen Straßenseite stand ein Typ. Emily blieb stocksteif stehen. Sie widerstand dem drängenden Impuls, die Tür wieder hinter sich zuzuschlagen und sich in ihrem Zimmer zu verbarrikadieren. Es gab kein Zurück mehr. Es gab ihr Zimmer nicht mehr. Es gab nur die Flucht nach vorn.
    Noch sieben Minuten.
    Sie schluckte ihre Angst hinunter und zwang sich zur Ruhe.
    Erstaunlicherweise gelang es ihr, nicht in Panik zu geraten. Nach einiger Überwindung blickte sie dem Unbekannten in die Augen. Ein ziemlich unangenehmes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Wäre sie nicht so weit entfernt gewesen, hätte sie außerdem zwei spitze Zähne bemerkt. Sie spürte, dass er sie erkannte, dass er wusste, wer sie war. Es erstaunte sie, dass sie darauf eher zornig als ängstlich reagierte.
    Entschlossen ging sie die Stufen vor der Haustür runter und auf den Mantelträger zu. Damit schien er nicht gerechnet zu haben: Sein Grinsen wackelte kurz, war jedoch sofort wieder an Ort und Stelle. Emily hatte es dennoch bemerkt. Der Wind frischte deutlich auf und forderte das rostfarbene Laub zu ihren Füßen sanft zum Tanz auf.
    Noch sechs Minuten.
    Sie wusste, was da auf der anderen Straßenseite auf sie wartete. Sie spürte, dass er ein Vampir war, als würde ein Teil von ihr aufschreien. Es konnte nur einen Grund geben, warum sie nicht schon bei Elias so reagiert hatte: Sie war ihrem wahren Wesenskern erst jetzt so nahgekommen, dass ihre alten Instinkte wieder zum Vorschein kamen. Wurde sie wieder zum Vampir? Zu dem, gegen das sie sich damals mit aller Macht gesträubt hatte? Sie schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf ihr Gegenüber, das betont langsam eine Getränkedose leerte und sie dann über die Schulter warf.
    Trotz der offensichtlichen Gefahr konnte sie nicht anders: Sie musste grinsen. Sollte das etwa einschüchternd wirken?
    Sie machte zwei weitere Schritte, ohne den Blick von den Augen des Vampirs zu lösen. Sie war zwar froh darum, dass sie derart gefasst blieb, fragte sich aber trotzdem, ob das, was gerade ihre Schritte lenkte, wirklich sie war.
    Noch fünf Minuten.
    Wie zur Begrüßung breitete der Fremde die Arme aus. Sein Grinsen wurde noch breiter. Jetzt entdeckte Emily die Zähne. Die sehr spitzen, langen, grausamen Zähne. Zögernd blieb sie stehen, während der Wind mit ahnungsvollem Raunen durch die zunehmend kahlen Bäume der Straße strich. Hab keine Angst , schien er ihr zuzuflüstern. Emily begriff, dass sie nicht allein war. Obwohl etwas in ihr sie immer noch dazu drängte, ins Haus zurückzurennen, kam es nicht gegen die Stimme an, die sie zur Ruhe zwang und sie an ihren Zorn erinnerte.
    Sie öffnete das Gartentor und trat auf den Bürgersteig. Nur die Straße trennte sie noch von dem Vampir. Er machte immer noch keine Anstalten, sie anzugreifen. Er stand einfach da, die Arme erhoben, den Mund zur Karikatur eines Grinsens verzogen, die Augen mörderisch kalt.
    Und so etwas bist du auch, bahnte sich ein Gedanke seinen Weg. Trotzig presste Emily die Lippen aufeinander. Das stimmte nicht! Zum ersten Mal empfand sie etwas anderes als Verwirrung und Unsicherheit ihrer Vergangenheit gegenüber. Sie war die Rebellin. Sie war der Herbstbringer. Und er konnte ihr nichts antun. Noch nicht.
    Noch drei Minuten.
    In einem rauschhaften Moment verstand sie alles. Warum sie so war, wie sie war. Warum sie rebelliert hatte.

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