Herbstbringer (German Edition)
Friedhof geschwärmt hatte?
»Ah, Highgate , die schönste Totenstadt der Welt. Gewiss einen Besuch wert. Wenn auch junge Damen wie du besser bis zum Morgen warten, wenn es hell ist.« Er räusperte sich. »Nun muss ich dich leider zur Tür begleiten – ich schließe jetzt. Die Geister meiner Vorgänger werden sonst sehr ungehalten.«
Noch bevor Emily sich verabschieden konnte, fand sie sich auf der regennassen Straße wieder. Wie zum Gruß stob ein Windstoß durch die kleine Gasse nahe des Ladens und wirbelte eine achtlos in den Randstein geworfene Zeitung auf. Emily schaute den umherflatternden Seiten hinterher. Irgendetwas über erschütternde Rentenkürzungen und augenscheinlich weniger erschütternde Vermisstenfälle in den Docklands hatten es auf den Titel geschafft.
Die Dämmerung zog rasch auf. Emily trottete weiter. Eine U-Bahn-Station mit dem Namen Angel weckte ihr Interesse. Irgendetwas klingelte bei diesem ungewöhnlichen Namen. Einen Moment lang dachte sie nach, doch sie kam nicht darauf und ließ den Namen wieder aus ihrem Gedächtnis rieseln. In einem kleinen Park unweit eines Pubs mit dem einladenden Namen The Albion setzte sie sich auf eine Bank und stöberte in der kleinen Broschüre der Buchhandlung. Immer wieder dachte sie an den Friedhof – auch wenn sie sich nicht erklären konnte, wieso sie so viele Gedanken daran verschwendete.
Sie verließ den Park und schlug, ohne nachzudenken, wieder den Weg in Richtung Angel Station ein. Irgendwo musste sie ja hin. Auf dem Vorplatz erregte ein Straßenmusiker ihre Aufmerksamkeit. Doch diesmal war es nicht die Musik, die ihre Schritte lenkte. Diesmal riss sie der Songtext aus ihren Gedanken. Wenige Meter vor dem jungen Kerl, der mit seiner schlecht gestimmten Akustikgitarre, Vollbart und zerbeultem Hut geradezu ein Bilderbuch-Straßenmusiker war, blieb sie stehen und lauschte. Es war sogar ein Lied, das sie kannte. Sie musste es wohl bei Jake gehört haben. Und dennoch hatte sie nie auf den Text geachtet. Bis heute. Still lauschte sie dem Sänger, hörte ihm andächtig zu, wie er von Londons Friedhöfen und vergessenen Geisterstädten sang.
Was geschah hier gerade? Wie hypnotisiert beobachtete sie den Musiker. Wenn er diesen Song hier für sie sang, ließ er es sich zumindest nicht anmerken: Mit geschlossenen Augen stand er einsam vor der Angel Station , völlig in die Musik versunken und losgelöst von dem geschäftigen Treiben um sich herum. Als wäre er gar nicht wirklich hier …
Ein Hupen riss sie jäh aus ihrem Bann. Sie konnte gerade noch zur Seite springen, bevor ein zu allem entschlossener Busfahrer sein rotes Gefährt halsbrecherisch an ihr vorbeilenkte. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie mitten auf der Straße gestanden hatte.
Mit schreckgeweiteten Augen und klopfendem Herzen blickte sie dem zweistöckigen Bus hinterher. Sie glaubte, die Nummer vierundzwanzig und diverse Haltestellen wie Liverpool Road oder Archway auf der Tafel im Rückfenster entziffern zu können. Ganz sicher war sie sich nur bei dem Ziel.
Highgate Hill.
Gänsehaut krabbelte an ihr empor, während der Straßenmusiker hinter ihr seine traurige Ode an die Stadt beendete.
There’s no light over London today …
Ohne sich ein weiteres Mal zu dem Musiker umzudrehen, lief sie entschlossen zur Bushaltestelle.
Die Schatten in Londons Straßen wurden tiefer. Unbemerkt von den Menschen hatte sich ein kaum wahrnehmbarer Pesthauch über die Stadt gelegt.
Nosophoros wusste, dass seine Rückkehr nicht ohne Folgen bleiben würde. An die Menschen verschwendete er dabei genauso wenig Gedanken wie ein Autofahrer an die Fliegen, die ihre Existenz an seiner Windschutzscheibe aushauchen. Er bedauerte höchstens, dass die menschlichen Bewohner dieser Stadt nicht mehr von seiner Gegenwart mitbekommen würden als den einen oder anderen Hustenanfall oder unerklärliche Kopfschmerzen.
Auch das würde sich ändern. Aus diesem Grund war es umso wichtiger, dass er im Verborgenen agierte. Eine allzu offene Demonstration seiner Fähigkeiten hätte selbst die begriffsstutzigsten Vampire dazu gebracht, die Zeichen richtig zu deuten. Dass selbst Michael erst auf ihn aufmerksam geworden war, als es ihm sein untreues Orakel verraten hatte, beruhigte ihn. Vielleicht hätte er die Werftarbeiter in den Docklands gar nicht derart zerfleischen müssen, dass sie sich auf dem Grund der Themse als gleichmäßige Schicht verteilten. Für die Fische war jedenfalls nicht viel übrig geblieben.
Sei’s
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