Herbstbringer (German Edition)
drum. Er konnte nicht vorsichtig genug sein. Und bislang lief alles nach Plan.
Schon beim ersten Hauch des Wetterumschwungs hatte er gewusst, dass die Rückkehr des Herbstbringers nah war. Er hatte sich nicht geirrt. Derart lodernder Hass konnte einfach nicht falschliegen. Das erste Mal seit vielen Jahren hatte er wieder den verhassten englischen Boden betreten – wenn er sich auch anfangs aus London ferngehalten hatte. Dieser Herbst würde nicht vergehen.
Die Stadt hatte ihn willkommen geheißen wie einen alten Freier. Man hatte keine Liebe von ihm zu erwarten und war seinen Wünschen völlig ausgeliefert. Im Gegenzug hielt er die Stadt am Leben und ernährte sie, wenn sie hungerte. Zumindest gewisse Teile von ihr.
Umgeben vom klagenden Gesang des Herbstwindes ließ der Pestbringer das London der Oberfläche zurück und stieg auf versteckten Wegen in die Unterwelt hinab.
Es war längst dunkel, als Emily den Friedhof im Norden der Stadt erreichte. Die Busfahrt hatte nicht lange gedauert, doch es hatte einige Überwindung gekostet, einfach in einen der Busse zu steigen. Während der Fahrt hatte sie sich dauernd gefragt, was sie dort eigentlich zu finden hoffte.
Jetzt stand sie an dem schmiedeeisernen Tor und stellte sich immer noch dieselbe Frage. Zwar hatte sie Elias’ damalige Warnung beherzigt und keine U-Bahn genommen, auch wenn die wesentlich schneller gewesen wäre. Mitten in der Nacht auf einem Friedhof herumzugeistern schien ihr trotzdem keine besonders gute Idee zu sein. Und das lag nun wirklich nicht daran, dass Emily Angst im Dunkeln oder vor Friedhöfen hatte. Beides war nicht der Fall. Im Gegenteil: Sie hatte die stille Friedlichkeit dieser Orte immer gemocht – und der unvernünftige Teil in ihr brannte darauf, diese berühmte Ruhestätte kennenzulernen.
Sie trat auf das hohe Tor zu und rüttelte an den kalten Eisenstäben. Nichts. Der Friedhof war verschlossen. Nicht sehr verwunderlich um diese Uhrzeit, befand sie.
Hätte ihr Verstand die Oberhand gehabt, wäre sie wahrscheinlich mit dem nächsten Bus in die Stadt zurückgefahren. In dieser Nacht schloss Emily ihn jedoch hartnäckig von jeglichen Entscheidungen aus. Zurück auf der Swain’s Lane, die am Friedhof entlangführte, schlenderte sie betont langsam die Umzäunung entlang. Sie konnte trauernde Engel, prunkvolle Gruften und bleich schimmernde Grabkreuze ausmachen. Der dezente Bodennebel, der sich in einer sanften Umarmung um alte Bäume und verwitterte Grabsteine legte, vervollständigte eine fast gespenstische Szenerie.
Ein paar hundert Meter weiter war Emily allein. Prüfend blickte sie den gut drei Meter hohen Zaun hinauf. An seiner Spitze konnte sie lanzenartige Verengungen erkennen.
»Mal sehen, was du so draufhast«, murmelte sie, blickte sich ein letztes Mal um und schwang sich mit erstaunlicher Leichtigkeit an den Zaun.
Keine fünf Sekunden später war sie federnd und schmerzfrei auf der anderen Seite gelandet. Und sie war nicht mal aus der Puste.
»Wow«, bemerkte sie beeindruckt. Es hatte scheinbar doch Vorteile, vampirischer Abstammung zu sein.
Etwas hatte sie an diesen Ort geführt. Dieses Etwas würde sie auch jetzt nicht im Stich lassen. Langsam setzte sie ihren Weg fort. Ohne zu wissen, was sie suchte, lenkte sie ihre Schritte ziellos zwischen den Gräbern umher. Immer wieder blieb sie stehen, um ein besonders eindrucksvolles Grabmal oder eine Inschrift auszumachen. Hier lag Charles Dickens’ unglückliche Ehefrau Catherine (1815–1879), dort William Michael Rossetti, Mitbegründer des Künstlerverbands der Präraffaeliten (1829–1919), woanders der blinde Abenteurer James Holman (1786–1857). Von all diesen Toten hatte Emily bereits gelesen. Bei dem Gedanken, dass die meisten der hier begrabenen viktorianischen Größen etwa so alt wären wie sie – wenn sie noch leben würden –, schauderte ihr. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie längst auch hier liegen würde, wäre sie ein normaler Mensch. Es war alles andere als einfach, sich an ein Konzept wie Unsterblichkeit zu gewöhnen. Wie hatte sie das in ihrem früheren Leben bloß ausgehalten? War es etwas anderes, wenn man nur die Unsterblichkeit kannte? An einem vor Vergänglichkeit geradezu überquellenden Ort mit der eigenen Unsterblichkeit konfrontiert zu werden, gehörte für Emily ab sofort zu den am wenigsten erstrebenswerten Erlebnissen überhaupt.
Die endlosen Gräberreihen lagen in tiefer Dunkelheit. Für Emily war es ein graues Zwielicht, als
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