Herbstfeuer
Erleichterung, weil Lillian noch am Leben war. Doch dieser Erleichterung folgte die Erkenntnis, dass sie sich deswegen noch lange nicht in Sicherheit befand. In Anbetracht der Tatsache, dass St. Vincent ein Vermögen brauchte, war es wahrscheinlich, dass er Lillian entführt hatte. Marcus wandte sich von seiner Mutter ab – er wollte sie nie wiedersehen und noch weniger mit ihr sprechen. Er sah Simon Hunt an. Wie er es sich gedacht hatte, überlegte Hunt bereits. „Er wird sie natürlich nach Gretna Green bringen“, murmelte er, „und sie müssen Richtung Osten reisen, zur Hauptstraße in Hertfordshire. Er wird es nicht riskieren, die Seitenstraßen zu nehmen und Gefahr zu laufen, im Schlamm stecken zu bleiben oder durch schlechte Straßen Schaden an den Rädern zu nehmen. Von Hertfordshire aus sind es noch etwa fünfundvierzig Stunden bis Schottland – und bei einer Geschwindigkeit von zehn Meilen pro Stunde, mit gelegentlichen Pausen, um die Pferde zu wechseln …“
„Sie werden sie niemals einholen!“, rief die Countess und lachte. „Ich sagte Ihnen, ich werde mich durchsetzen, Westcliff!“
„Ach, halten Sie den Mund, Sie böses Weib“, rief Daisy Bowman ungeduldig von der Tür her. In ihrem bleichen Gesicht wirkten die Augen übergroß. „Lord Westcliff, soll ich zu den Stallungen laufen und Bescheid geben, dass man ein Pferd satteln soll?“
„Zwei Pferde“, mischte Simon Hunt sich entschieden ein. „Ich begleite ihn.“
„Welche?“
„Ebony und Yasmin“, erwiderte Marcus. Das waren seine besten Araber, die gezüchtet wurden, um mit hoher Geschwindigkeit große Entfernungen zurückzulegen. Sie waren nicht so blitzschnell wie die Vollblüter, aber sie würden einen schnellen Ritt über Stunden aushalten und damit mindestens dreimal so schnell sein wie St. Vincents Kutsche.
Daisy verschwand schnell wie der Blitz, und Marcus wandte sich an seine Schwester. „Sorg dafür, dass die Countess fort ist, wenn ich zurückkehre“, sagte er knapp. „Pack zusammen, was immer sie braucht, und schaff sie von diesem Anwesen.“
„Wohin soll ich sie schicken?“, fragte Livia, die zwar bleich, aber gefasst war.
„Das ist mir verdammt egal, solange sie weiß, dass es kein Zurück gibt.“
Da sie erkannte, dass man sie fortschickte, vermutlich für immer, erhob sich die Coutness von ihrem Stuhl. „Ich lasse mich nicht auf diese Weise abschieben! Das dulde ich nicht, Mylord!“
„Und sag der Countess“, fuhr Marcus, an Livia gewandt, fort, „wenn Miss Bowman auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann sollte sie darum beten, dass ich sie niemals finde.“
Mit diesen Worten eilte Marcus aus dem Zimmer und drängte sich durch die kleine Menschenansammlung, die sich auf dem Gang eingefunden hatte. Simon Hunt blieb nur kurz stehen, um ein paar leise Worte mit Annabelle zu wechseln und ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben, dann folgte er ihm. Annabelle sah ihm besorgt nach und biss sich auf die Lippe, um ihm nicht nachzurufen.
Nach einer Pause ließ sich die Countess wieder vernehmen: „Was aus mir wird, spielt keine Rolle. Mir genügt es zu wissen, dass ich ihn daran gehindert habe, das Familienerbe zu beschmutzen.“
Livia drehte sich um und schenkte ihrer Mutter einen halb mitleidigen, halb verächtlichen Blick. „Marcus versagt niemals“, sagte sie leise. „Den größten Teil seiner Kindheit hat er damit verbracht, unüberwindliche Hindernisse zu bewältigen. Und nun, da er endlich jemanden gefunden hat, für den zu kämpfen sich lohnt – glauben Sie wirklich, er würde sich von irgendetwas aufhalten lassen?“
25. KAPITEL
Die Nachwirkungen des Äthers brachten Lillian dazu, einzuschlafen, während sie mit dem Kopf an der Kutschenwand lehnte. Sie erwachte davon, dass der Wagen langsamer wurde. Ihr Rücken schmerzte, und ihre Füße fühlten sich kalt und taub an. Sie rieb sich die müden Augen und fragte sich, ob sie wohl geträumt hatte. Sie wollte in dem ruhigen kleinen Schlafgemach in Stony Cross Park erwachen – oder, besser noch, in dem breiten Bett, das sie mit Marcus geteilt hatte. Als sie die Augen öffnete, sah sie das Innere von St. Vincents Kutsche, und der Mut drohte sie zu verlassen.
Unbeholfen und mit zitternden Fingern hob sie den Vorhang am Fenster hoch. Es war früher Abend, und die untergehende Sonne schickte ihre letzten Strahlen durch die Gipfel der Bäume. Die Kutsche hatte vor einem Gasthaus gehalten. Vor dem Vordereingang hing ein Schild mit der Aufschrift:
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