Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
koordiniert
und jetzt …«
Er nennt
sie Toni. Wie liebevoll das klingt.
Er unterbricht sich und hüstelt. »Ähm, jedenfalls ist die
Patientin statt wie geplant morgen früh gerade eben schon in Tegel gelandet. Der
Chefarzt will, dass die ersten Untersuchungen unbedingt noch heute Abend … Rosa?«
Er kommt tatsächlich nicht. »Ja?«
»Es tut mir unglaublich leid. Wir holen das nach, okay?«
»Holen wir nach, na klar«, sage ich mit Grabesstimme.
»Ich muss jetzt auflegen.«
»Ja? Okay
… Ist schon in Ordnung.«
»Wirklich?«
Na klar,
gegen eine Frau mit einem schrecklichen Tumor im Gesicht kann ich natürlich nicht
anstinken, ohne als völlig hirnloser Unmensch dazustehen. Ist also total in Ordnung.
Er soll ihr gefälligst helfen. Aber warum muss er dabei ausgerechnet mit der schönen
Antonia zusammenarbeiten? Haben die keine anderen Ärzte auf der Station?
Er hängt
immer noch an ihr. Wegen ihr, nicht wegen der Tumorfrau hat er mich stehen lassen.
Er will Antonia zurück. Und so lange, bis er sie rumgekriegt hat, bleibt er mit
mir zusammen, damit er ein doofes Kuschelhäschen für sein Bett hat. Oh mein Gott!
Ich bin
so geschockt, dass ich nicht mal heulen kann.
Da klingelt
mein Handy erneut.
Basti?
Auf dem
Display erscheint eine unbekannte Nummer. Lustlos gehe ich ran.
»Ja?«
»Hier ist
Leo.«
»Weeeer?«
»Leo, Leopold.
Stör ich?«
Vor meinem
inneren Auge sehe ich gepflegte schlanke Finger sanft über meine Wange streicheln.
Tiefe Blicke aus funkelnden braunen Augen versenken sich in meinen …
»Nein, Leo.
Nein, du störst wirklich nicht.«
*
»Ein Wunder, dass du nicht entführt
worden bist, so wie du aussiehst.«
Es hat nur
zehn Minuten gedauert. Jetzt steigt Leo aus seinem Mercedes Cabrio und drückt mir
zur Begrüßung ein Küsschen auf die Wange. Sein Bart kitzelt mich. Er riecht gut.
Ganz nebenbei, wie unabsichtlich, streicht er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Ich stehe schlagartig unter Strom.
»Hey, schön,
dass du da bist«, sage ich.
Es klingt
zum Glück locker. In meinem Hals sitzt nämlich ein Kloß, weil Basti mich versetzt
hat.
Ein paar
Leute bleiben stehen und gucken. Ob es wegen Leo ist? Oder wegen seines coolen Autos,
dessen Tür er aufhält, damit ich einsteige?
»Da habe
ich aber Glück gehabt«, sagt er. »Dass du so spontan Zeit hattest.«
»Lustiger
Zufall! Meine blöde Freundin hat unsere Verabredung vergessen«, lüge ich. Sorry,
Vicki! Aber von Basti, Antonia und der Tumorfrau will ich im Moment wirklich nicht
sprechen. Ich will nicht mal an sie denken. Sonst fange ich doch an zu heulen.
»Wohin fahren
wir?«
»Irgendwohin,
wo es schön ist«, sage ich locker. Es ist gar nicht schwer mit ihm. Der Kloß ist
plötzlich weg. »Ich bin gespannt, wie dir meine Entwürfe gefallen.«
Während der Fahrt schweigen wir. Ich beobachte verstohlen,
wie er fährt. Lässig, souverän und ohne nerviges ›An der nächsten Kreuzung links
abbiegen‹-Navi, als wäre Berlin seine Heimatstadt. Dabei wohnt er gerade seit zwei
Wochen hier. Das gefällt mir. Ich mag Männer, die wissen, was sie tun. Zwischendurch
guckt er zu mir rüber und lächelt.
Schließlich
landen wir in einem schicken Restaurant am Ludwigkirchplatz.
*
Irgendwann mitten in der Nacht komme
ich nach Hause. Der übliche Blick in Vickis Zimmer. Sie ist nicht da. Zum ersten
Mal, seit ich auf ihre Wiederkehr warte, stört mich das nicht. Ich streife meine
Schuhe ab, sause in mein Zimmer und schnappe mir Augustas Tagebuch.
Jetzt ein
wenig Ruhe finden! Nach dem Abend mit Leo bin ich nämlich ziemlich überdreht und
werde bestimmt nicht gleich einschlafen können. Das langsame Zusammenbasteln der
alten Kurrentschrift von Augusta wird mich runterbringen und müde machen.
5. Oktober
1912
Unser Körper ist sinnvoll aufgebaut.
Ganz oben ist der Kopf, in dem der Verstand wohnt, der uns sagt, was richtig ist
und was wir tun sollen. Mit Recht hat er die größte Macht über uns, denn unser Handeln
sollte stets von Klugheit und Vernunft geleitet sein. Dann folgt das Herz, der Sitz
der Gefühle. Ihnen gebührt der zweite Rang, denn wir Menschen sind die einzigen
Wesen, die fähig und willens sind, uns selbst und anderen Kreaturen Mitleid und
Liebe zu schenken. Diese beiden Kräfte sind dem Bauch übergeordnet. Wir sind keine
Tiere, die nur leben, um ihre Instinkte zu befriedigen. Auch wenn wir essen und
uns fortpflanzen müssen, um uns zu erhalten, sind wir doch viel mehr als das.
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