Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
Ganz
unten sind die Füße, die zwar fähig sind, uns wegzutragen von dem Platz, an den
wir vom Schicksal gestellt wurden. Aber all die anderen, viel mächtigeren Teile
in uns, befehlen ihnen dazubleiben, wo wir hingehören.
Mutter wäre
böse, wüsste sie, was ich gleich in mein Tagebuch schreiben werde. Dabei kann sie
zufrieden sein, handele ich doch allzeit so, wie es sich als junge Frau aus gutem
Hause geziemt.
Über allem
steht die Pflicht, denn sie gibt uns den Sinn des Lebens, den niedere Kreaturen
nicht kennen. Aber die Gedanken … oh ja, die Gedanken sind frei.
Seit heute
Nachmittag befindet sich mein Körper nicht mehr in der rechten Ordnung. Doch niemals
darf eine lebende Seele davon erfahren. Nur das stumme, geduldige Papier ist jetzt
noch mein Freund.
Herz über
Kopf.
… und ich
begreife nicht, wie das einfach so geschehen konnte.
Heute Nachmittag
habe ich mit meinen Eltern den Botanischen Garten besucht. Wir spazierten bei angenehm
mildem Wetter durch die Anlagen und bestaunten Pflanzen aus aller Herren Länder.
Im großen Tropenhaus erwartete uns Wendelin Hegelow – eben jener junge Mann, der
sich neulich zu mir ins Zimmer verirrt hatte –, den Vater dazu gebeten hat, damit
er uns mit seinem botanischen Sachverstand die vielen exotischen Pflanzen erklärt.
Mutter war
bereits nach kurzer Zeit ermüdet und beschloss, eine Ruhepause einzulegen. Ich erbot
mich, ihr Gesellschaft zu leisten. Papa hingegen schickte mich – unter Mutters unwilligen
Blicken – auf eine weitere Exkursion durch den Garten, während er selbst pausierte.
Geführt von Wendelin, der auf das Schönste und Interessanteste
zu erzählen weiß, erkundete ich die Pflanzen der ganzen Welt. Ich verstehe nicht,
warum, doch ich wünschte in diesem Moment, ich könnte noch tausend Mal mit ihm spazieren
gehen. Obwohl er kein Mann von Adel und Stand ist, hat er mich mit seinem Wissen
und seiner klugen, aufmerksamen Art ganz und gar in seinen Bann gezogen.
Ich wage
kaum, es aufzuschreiben, denn zu ungehörig ist das, was ich empfinde.
Seitdem
sind meine Gedanken unaufhörlich von Wendelin beherrscht. Und das Schöne ist – ihm
ergeht es ebenso. Vor einer Stunde brachte mir Sophie einen kleinen Brief von ihm.
›Liebes Fräulein Augusta, darf ich hoffen, dass Ihnen unser
wunderbarer Nachmittag ebenso viel bedeutet hat wie mir? Ich erhoffe ein Wiedersehen
in Kürze. Ihr ergebener W.‹
Ist das herrlich! Augusta von Liesen
hat sich verliebt, und zwar in den Richtigen. Ich weiß nicht, warum ich mir sicher
bin. Aber dass Wendelin ein prima Kerl ist, merkt man sofort. Bin ich froh für Augusta!
Jetzt muss sie nur noch diesen ollen Fritze Kastanienbaum zum Teufel jagen und dann
geht es ihr richtig gut.
Mein Handy
holt mich zurück in die Wirklichkeit. Eine SMS. Mitten in der Nacht. Bestimmt Basti,
der gerade von der Arbeit kommt und sich noch einmal entschuldigen will. Pah!
›Rosa, der
Abend mit dir war sehr inspirierend. Bitte glaube mir, dass ich so etwas lange nicht
erlebt habe. Ich hoffe, dir geht es genauso. Leo‹.
Ich starre
ungläubig auf das kleine Display. Hat das wirklich Leopold Weidenhain geschrieben?
An mich? Oder bin ich noch so in meiner Augusta-Tagebuch-Welt gefangen, dass
ich halluziniere? Wieder und wieder lese ich die wenigen Zeilen. Davon abgesehen,
dass sie fast wie Wendelins Botschaft an Augusta klingen, wirken sie beinahe wie
eine kleine Liebeserklärung.
Leo und
ich haben den ganzen Abend über die Kostüme geredet.
Jeder zweite Satz von ihm war ein Lob für meine Arbeit. Kein
einziges Wort sprachen wir über uns, über unsere Beziehungen und diesen ganzen Männer-
und Frauenkram. Nur über ›Love dreams‹. Und jetzt schreibt er mir das?
Hallo, Augusta,
ich weiß genau, was du gefühlt hast. Ihr habt euch zusammen Pflanzen angeguckt und
plötzlich wart ihr ineinander verliebt.
Oh mein
Gott! Sollte es bei mir und Leopold etwa genauso sein?
Rosa Redlich,
jetzt spinnst du total.
Es ist 3
Uhr nachts. Ich bin total übermüdet, kann deshalb Spinnerei und Wahrheit nicht auseinanderhalten
und sollte dringend schlafen.
Ich schalte
mein Handy aus, versenke es zusammen mit Augustas Tagebuch ganz hinten in meiner
Wäscheschublade und gehe ins Bett.
*
»Siehst du schlecht aus«, begrüßt
mich Jola.
»Wir haben
schon gefrühstückt«, sagt Margret. »Du bist spät heute.«
»Entschuldigung«,
nuschele ich und schnappe mir den Becher, den mir Jola mitleidig hinhält. Leider
ist der Kaffee
Weitere Kostenlose Bücher