Herbstvergessene
war ein paar Wochen vor dem Verschwinden meines Vaters. Es ging um Hohehorst als Vorzeigeobjekt der Nazis. Ein Journalist hatte einen reißerischen Bericht über Hohehorst als Begattungsheim der SS geschrieben und behauptet, dass dort
erbgesunde
blonde Maiden mit ebenso blonden und virilen S S-Männern zusammengeführt wurden. Aus heutiger Sicht kompletter Quatsch. Inzwischen weiß man, dass die Lebensborn-Heime keine Zuchtanstalten waren. Allerdings …« Er hielt inne, rieb sich über die Stirn und lehnte sich dann zurück. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen und sagte schließlich: »In diesem Artikel wurde weiterhin behauptet, dass Ostern 45, als absehbar wurde, dass Deutschland den Krieg verlieren würde, Angestellte des Lebensborn sämtliche Papiere, die Standesamtsbücher, Karteien von den Kindern in Kisten verpacktenund im Park vergruben. Anschließend gaben sie den Kindern (es waren damals fast nur noch norwegische Kinder in Hohehorst) andere Namen. Es sollte verschleiert werden, woher die Kinder stammten. Mein Vater war wohl auch daran beteiligt – so wurde jedenfalls in dem Artikel behauptet.«
Er blickte mich starr an und ich sah, dass er mit sich rang. Plötzlich wurde ich wieder ungeduldig und schnauzte ihn an: »Warum sagen Sie mir nicht einfach
alles
, Himmelherrgottnochmal, das ist jetzt alles über sechzig Jahre her, das ist doch eine verdammt lange Zeit. Wovor haben Sie Angst?!«
Er sagte immer noch nichts und auch ich schwieg und fühlte mich auf einmal wie leer. Schließlich seufzte er: »Warum eigentlich nicht? Es ist in der Tat lange her. Aber … gewisse Dinge verjähren nicht … Jedenfalls nicht für die Opfer. Und ich … ich hatte einfach Angst, dass diese Geschichte jetzt wieder ausgegraben wird – gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem ich die Leitung des
Rothstein Medical Centers
übernommen habe
.«
»Aha.« Ich war nicht gewillt, es ihm leichter zu machen. Zu viel hatte er mir bisher verschwiegen.
Er räusperte sich. »In diesem Artikel wurde behauptet, dass mein … Vater und einige Angestellte des Hauses daran beteiligt gewesen waren, die Identität einzelner Kinder nachhaltig zu verwischen. Sie waren an gewissen … Adoptionen beteiligt.«
»Aber warum hätte er das tun sollen? Als Arzt …«
»Warum war ein Nazi ein Nazi und wie war es möglich, dass Millionen von Juden umgebracht worden sind? Verdammt, irgendjemand muss das doch gewesen sein!« Er sah mich eindringlich an. »Ich weiß nicht, was an diesen Behauptungen wahr gewesen ist – und was nicht. Das mit den Zuchtanstalten ist Nonsens, aber dass Lebensborn-Mitarbeiter die Herkunft von Kindern verschleiert haben, ist belegt. Dieser Journalist behauptete weiterhin, dass mein Vater und Angestellte des Heims für einige der Kinder Adoptivfamilien gefunden hätten, denen es nur darauf ankam, ein ›rassisch hochwertiges‹ Kindaufzunehmen. Und dass sie gezielt alle Unterlagen, die Rückschlüsse auf die wirklichen Eltern dieser Kinder aus Norwegen hätten geben können, vernichtet haben sollen.«
»Aber waren diese Kinder nicht ohnehin zur Adoption freigegeben?«
»Sie verstehen immer noch nicht. Die Mütter dieser Kinder waren in Norwegen und die Kinder sind im Zuge der Heimführungsaktion nach Deutschland gebracht worden. Als man die norwegischen Lebensborn-Heime aufgelöst hatte …«
»Sie meinen, diese Kinder hatten irgendwo Mütter, die sie wieder zu sich nehmen wollten?«, fragte ich ungläubig.
»Ja.«
»Aber … das ist ja furchtbar.« Ich konnte es nicht fassen. Und Oma Charlotte …
Sie hatte in der Verwaltung des Heimes gearbeitet!
Die Gedanken stürzten durcheinander, Bilder von Oma Charlotte blitzten auf. Wie sie mir Kirschsuppe kochte, mit Schneeklößchen, an heißen Sommertagen. Wie sie mir vorlas,
Rübezahl
und
Heidi
. Wie sie mir Butterstullen schmierte und sie mit Zucker bestreute. War es möglich, dass Oma von so etwas gewusst hatte? Oder dass sie – noch schlimmer – daran beteiligt gewesen war? Ich sah auf in Sartorius’ Augen und las dort dieselbe Traurigkeit, dieselbe Verwirrung, die auch ich empfand.
»Wie sagt man dazu:
partners in crime
? Das war es, was ich dir ersparen wollte. Dir – und mir.« Er lächelte, es war ein bitteres Lächeln.
Hanna starrte mich an, als spräche ich eine ihr fremde Sprache. Lange Zeit maßen wir uns stumm, und als sie endlich zu sprechen anhob, klang ihre Stimme belegt, aber gefasst. »Er hat versucht, dich zu
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