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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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von Kindern beteiligt gewesen war oder diese vielleicht sogar hauptamtlich organisiert hatte. Eine Mutter, die das erfahren und nicht verkraftet hatte, diese Wahrheit und einen Körper, der vom Krebs befallen war. Und die sich in einem Moment der Depression betrunken hatte und daraufhin vom Balkon gesprungen war. Das also hatte sie mir sagen wollen.
    Sartorius ging neben mir her und ich warf ihm einen raschen Seitenblick zu. Wie hatte
er
das alles verkraftet? Oder war es weniger schlimm für ihn, weil er den Vater, den Täter-Vater, gar nicht gekannt hatte? Wie viel konnte ihm ein Mensch bedeuten, den er nur von Erzählungen her kannte? Dessen zärtliche Hand ihm nie übers Haar gestrichen hatte, der niemals mit ihm beim Angeln gewesen war, der ihn nie zu einem Fußballspiel begleitet hatte oder was auch immer ein Vater mit seinem Sohn tat. Sartorius’ Miene war undurchdringlich. Wie von weit her spürte ich den leichten Druck seiner Hand an meiner Schulter und die Wärme seiner Finger drang durchden Mantelstoff. Und plötzlich wurde ich mir wieder seiner Nähe, seiner Attraktivität bewusst und ein rauschhaftes Bedürfnis nach mehr flammte in mir auf. Ich dachte kurz daran, dass hier etwas verkehrt lief, dass es eigentlich Wolf hätte sein sollen, dessen Arme mir Halt und Trost gaben, doch ich schob Wolfs Gesicht beiseite wie ein Dia, das aus dem Projektor fährt, und legte stattdessen erneut Roman Sartorius’ Profil ein.
    Als wir vor dem Haus in der Siebensterngasse ankamen, ließ er mich los und machte einen Schritt zurück, als sei er sich ganz unvermittelt einer Art von Zudringlichkeit bewusst geworden. Und es war dieser Schritt nach hinten, die etwas linkische und steife Haltung, die er dabei einnahm, die in so krassem Gegensatz zu seinem blendenden Aussehen stand und die eher auf Unsicherheit im Umgang mit dem anderen Geschlecht schließen ließ. Und vielleicht war es diese verwischte Geste, die mich sagen ließ: »Ich habe Hunger, und Sie?«
    »Du.«
    »Du. Hast du nicht auch Hunger? Trotz allem.«
    »Ein gutes Zeichen, oder? Ja, ich könnte auch was vertragen.«
    »Ich würde dich ja gerne zu mir zum Essen einladen, aber ich habe nichts im Haus. Außer Alkohol.« Ich grinste schief und er erwiderte meinen Blick mit einem kleinen Lächeln. »Nicht weit von hier ist ein Lokal, in dem man ganz gut isst. Hast du Lust, mir Gesellschaft zu leisten?«
    »Ja«, sagte er schlicht.
    Im
Siebensternbräu
herrschte wie immer summende Geschäftigkeit, es roch nach Gebratenem, nach Rauch und Geselligkeit – es war der ideale Ort, um die Realität für eine Weile zu vergessen und in ein Bierglas abzutauchen. Ich hatte nicht oft das Bedürfnis, mich schon mittags in eine Wirtschaft zu setzen und mich zu betrinken, aber jetzt hatte ich es. Mir war inzwischen ganz schwach vor Hunger, sodass ich es kaum abwarten konnte, bis der Bediener endlich kam. Wir bestellten Knödel und Sauerkraut und Würstchen, doch statt des Bierslieber Wein, und da mir die Grundlage fehlte, schoss mir der Grüne Veltliner, der eine Nuance zu warm war, sofort ins Blut.
    Wir unterhielten uns immer angeregter. Und je mehr ich sprach und trank, desto leichter wurde mir, und alles, was mich noch bis vor Kurzem bedrückt hatte, war auf einmal in weite Ferne gerückt, es betraf mich zwar noch, aber es machte mir nichts mehr aus. Es war gerade so, als lösten wir die dumpfe Erkenntnis über unsere Vergangenheit, die sich gekreuzt hatte, durch unser Gespräch auf. Und natürlich trug auch der Wein dazu bei, den Unglauben und das Erschrecken, das ich empfunden hatte, hinwegzuspülen. Ich erzählte Sartorius von Oma und Mutter, von meiner Kindheit in den Internaten, von Mutter, die nie da gewesen war, wenn ich sie gebraucht hätte. Von dem beruflichen Irrweg, den ich fast eingeschlagen hätte. Und irgendwann begann auch Roman zu erzählen. Von seiner Kindheit mit einer Mutter und einer Schwester, die das plötzliche Verschwinden des Ehemanns und Vaters nie verwunden hatten. Von der Schmach, die dieser Zeitschriftenartikel über die Familie gebracht hatte. Von einer Flucht in die USA, bei der man die Gespenster der Vergangenheit im Umzugsgepäck mit sich geführt hatte. Von der sozialen Isolation, in die die Mutter geraten war, dort in Florida, weil sie außer den Kindern niemanden gehabt hatte und auch an niemandem interessiert gewesen war. Von der Schwester, die, kaum dass sie achtzehn Jahre alt geworden war, gegen den Willen der Mutter nach Deutschland, in

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