Herbstvergessene
sehr, dass ich die Knöpfe nicht in die Knopflöcher bekam. Paulchen fing an zu zappeln und zu jammern.
»Ich habe mich kundig gemacht, was in einem Fall wie dem Ihren zu tun ist. Kleines Frollein.«
Er begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, die Arme im Rücken. Er ließ sich Zeit, kostete seinen Triumph aus. Als doziere er vor einem großen Publikum, fuhr er fort: »Ich sehe da zwei Möglichkeiten für mich als Heimleiter: Ich kann der Lebensborn-Zentrale Meldung machen von dem Betrugsfall. Dann wird der Vorstand darüber beraten, wie man weiter verfährt. Immerhin haben Sie den Staat arglistig getäuscht, sich Leistungen erschlichen, die Ihnen gar nicht zustehen. Sie haben einer guten deutschen Frau und ihrem arischen Kind einen Platz weggenommen! Sie haben nicht nur falsche Angaben gemacht, sondern dem deutschen Vaterland ein zionistisches Balg untergejubelt! Das ist ein ernst zu nehmendes Vergehen. Ganz zu schweigen von der …«, er lächelte, »… ganz zu schweigen von der Rassenschande.«
Er sprach mit leiser, milder und freundlicher Stimme, die in krassemGegensatz zum Inhalt seiner Worte stand. Auch seine Miene war gleichmütig, neutral. Paulchens Wimmern hatte sich zu einem Weinen gesteigert, ich wiegte ihn, doch er wollte sich nicht beruhigen. Und während ich noch überlegte, ob ich aufstehen und ihn herumtragen sollte, fuhr Sartorius fort: »Das war die erste Möglichkeit. Die zweite wäre … nun, ich habe noch einmal einen Blick in ihre Akte geworfen. Und erfahren, dass auch in Ihrem Fall der Lebensborn die Vormundschaft für das kleine Paulchen hat. Und was das zu bedeuten hat, wissen Sie ja.«
Ich hörte auf, Paulchen zu wiegen. Sein Weinen wurde nun endgültig zu einem Schreien. Ich starrte Sartorius an, sein ebenmäßiges Gesicht, freundlich und schön, und wie er da scheinbar in Plauderstimmung lässig an der Tür lehnte. Als würde er sich mit mir über ein Picknick unterhalten oder einen Ausflug, irgendetwas von sommerlicher Leichtigkeit oder von großer Beiläufigkeit. Ich brachte kein Wort heraus. Und dann stieß er sich von der Tür ab und kam langsam auf mich zu.
»Natürlich würde man im letztgenannten Fall die wahre Identität des Vaters nicht unterstreichen. Immerhin scheint Ihr Paulchen ein … erbgesundes Kerlchen zu sein. Es gibt viele Ehepaare, speziell in den Kreisen der SS, die nur zu dankbar wären, so einen hübschen Kleinen adoptieren zu können.«
Er stand jetzt ganz dicht vor mir. Ich wagte kaum, den Blick zu ihm zu heben. Er legte den Zeigefinger an die Lippen und machte »pst« und Paulchens Schreien ebbte tatsächlich ab, wurde ein klägliches Wimmern.
»Es gäbe da allerdings noch eine dritte Möglichkeit.«
Er seufzte, als ermüde ihn schon das pure Nachdenken über diese dritte Option. Und dann streckte er seine Hand nach mir aus und berührte mein Haar, zog die Haarnadeln heraus, sodass mir die Zöpfe auf die Schultern fielen. Mir stockte der Atem.
»Wenn ich jetzt bemerken sollte, dass es Ihnen tatsächlich leidtut, dass Sie ernstlich bereuen, Ihr Vaterland derart betrogen zu haben, dann …«
Die Berührung seiner Hand auf meinem Haar war kaum spürbarund doch unerträglich. Er begann, meine Zöpfe zu lösen, wie ein Hauch fuhren seine Finger durch die Flechten, weiter nach vorne, in mein Gesicht, hielten an meiner Wange inne. »Dann wäre es möglich, dass ich die … Angelegenheit noch einmal überdenke. Denn die Zeiten sind doch schon schwer genug, nicht wahr, meine Schöne!«
Und dann legte er seine Finger auf meine Lippen und so saß ich da, den weinenden Kleinen im Arm und Sartorius vor mir, der meine Lippen streichelte. Die Angst lähmte meine Glieder, ich konnte mich nicht bewegen, nicht aufstehen. Und so blieb ich sitzen, auf dem Bett, noch lange, nachdem er gegangen war.
Die nächsten Minuten, vielleicht war es auch länger, musste ich wie betäubt dagesessen haben. Später erinnerte ich mich nur daran, dass Sartorius meinen Mantel geholt, ihn mir angezogen hatte und mich dann aus dem Kaffeehaus führte. Die Straßen waren voller Menschen, eine bunte Geschäftigkeit, die von Leben und Zielen, Pflichterfüllung und Lachen gleichzeitig erzählte, doch es war mir egal, ich musste nur an das denken, was Sartorius mir erzählt hatte. Mein Zorn auf ihn war verpufft, mein Misstrauen einem dumpfen Unwohlsein gewichen. Das war also nun das Ergebnis meiner Suche: Eine Großmutter, die aller Wahrscheinlichkeit nach an der Verschleppung
Weitere Kostenlose Bücher