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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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auf sie zu, sie wich zurück, so als hätte sie Angst, dass ich ihr an die Kehle springen könnte.
    »Du willst, dass ich dir sage, was ihr ohnehin schon wisst? Nun, dann tu ich dir den Gefallen. Sartorius hat mit deiner Hilfe herausgefunden, dass   … dass ich einen anderen als Kindsvater angegeben habe, den Mann meiner anderen Schwester, der im Krieg gefallen ist: Hans Wilhelm. Und Hans Wilhelm ist   … war blond, und rat mal, was für eine Augenfarbe er hatte, na? Blau, er hatte blaue Augen.« Es fiel mir schwer, meine Stimme im Zaum zu halten. »Was schaust du mich so an? Ja, richtig, liebe Hanna. Mein Paulchen hat braunes Haar. Und seine Augen sind fast schwarz, wie du weißt, schwarz. Auf jeden Fall hat Sartorius mich jetzt in der Hand. Und nun   … nun hat er   … versucht mich zu küssen, verstehst du. Und ich weiß nicht, was ich machen soll! Wenn ich nicht tue, was er will, dann wird er es dem Verein mitteilen   …«

 
    In Wien empfing mich ein eisiger Wind und es war schon nach zehn, als ich, noch vom Flughafen aus, Dr.   Prohacek anrief und mich mit ihm für den nächsten Nachmittag verabredete. Er klang müde, doch auf meine Frage, ob ich ihn geweckt hätte, sagte er: »Ach, i wo, vor ein Uhr gehe ich ohnehin nicht zu Bett. Seit dem Tag komme ich nicht mehr richtig zur Ruhe.«
    Ich lauschte stumm, versuchte zu ergründen, was er meinte – sprach er tatsächlich von Mutters Todestag? Aber ich wollte nicht nachfragen. Am Telefon würde er mir sicher nichts sagen. Es blieb also nur abzuwarten. Und das war das, was ich am allerwenigsten konnte. Noch dazu ohne Nikotin.
    Nach meinem Telefonat mit Sartorius war ich Hals über Kopf zum Flughafen gefahren und hatte den nächsten Flieger nach Wien genommen. Als ich schließlich spät in der Nacht in der Siebensterngasse auf das Haus meiner Mutter zuging, war ich müde und fror. In Ernas Wohnung brannte noch Licht, ein warmer Schein, rötlich hinter dem gelben Vorhang. Ich war kurz versucht, bei ihr zu klingeln und Hallo zu sagen, fürchtete aber, dass ich dann, um nicht unhöflich zu erscheinen, auf ein Glas hätte eintreten müssen, und das wollte ich nicht, denn es gab etwas, das ich noch heute oder zumindest vor dem Treffen mit Sartorius am nächsten Vormittag suchen und finden musste.
    Die Wohnung war kalt und abweisend und ich hatte das Gefühl, als sei alles Leben daraus für immer verschwunden. Trotz des Windes riss ich als Erstes die Fenster auf, um etwas Bewegung in diese Gruft zu bringen. Ich drehte alle Heizkörper auffünf, machte Feuer im Kamin, setzte Wasser auf und schaltete den Boiler im Bad an. Dann schloss ich die Fenster wieder und bebrühte mir einige Malvenblüten, die rot und verheißungsvoll durch das Glas der Kanne schimmerten.
    Mit einer großen Tasse Tee in der Hand ließ ich mich im Wohnzimmer nieder. Und schließlich begann ich noch einmal Mutters Unterlagen vor dem Kamin auszubreiten. Zettel für Zettel, Blatt für Blatt nahm ich in die Hand, sah es an und legte es wieder fort und nahm das nächste. Ich war mir ganz sicher, dass das, was ich suchte, hier sein musste. Als ich die Sachen im Dezember gesichtet hatte, hatte irgendetwas mich davon abgehalten, Dinge fortzuwerfen. Ich war einfach nicht in der Lage gewesen. Nach zwei Gläsern Tee wurde mir langsam wieder warm, das Kaminfeuer lag wie ein heißes Tuch auf meinem Rücken. Und da war es. Der Hinflug war am 2.   Dezember gewesen, der Rückflug am 6.   Kaum Zeit, den Jetlag zu überwinden, und sicher ein Albtraum für jemanden, der unter Flugangst litt wie Mutter. So etwas machte man nur, wenn man etwas wirklich Wichtiges zu erledigen hatte.
     
    Am nächsten Morgen weckten mich die Regentropfen und ein böiger Wind, der an den Fensterläden rüttelte. Das Geräusch lullte mich ein und ich wäre am liebsten im Bett geblieben, den ganzen Vormittag, um bei einer Tasse Tee und einem Buch alles zu vergessen. Ich sah auf die Uhr. Halb acht, also hatte ich wenigstens noch Zeit genug für einen Kompromiss. Ich kochte mir einen Becher Kaffee, holte die Zeitung, die ich am Vortag aus dem Flieger mitgenommen hatte, und setzte mich noch ein Stündchen ins Bett, trank, las und betrachtete zwischendurch die Regentropfen. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu dem Flugticket zurück, das ich in Mutters Sachen gefunden hatte. Also hatte Roman Mutter kennengelernt, er
musste
sie zumindest einmal getroffen haben, anders war das Ticket nach Miami nicht zu erklären. Unwillkürlich

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