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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Hier in Wien? Auf dem unendlichen Zentralfriedhof? Ich liebte diesen Friedhof und war früher manchmal dort spazieren gegangen.
    Das Denken fiel mir schwer, ich konnte mich nicht konzentrieren, nahm einen Schluck Kaffee. Ich sagte: »So ganz allein auf dem Zentralfriedhof? Ich weiß nicht, ich meine, sie hat hier gelebt, viele Jahre, aber es käme mir so vor, als würde ich sie   …«
    Ich verstummte. Schluckte. Erna nickte, als könnte sie den Gedanken zu Ende denken. Sie griff nach der Butter, räusperte sich und sagte: »Ich helfe Ihnen gern. Mit allem.«
    »Ich   … möchte sie lieber neben meiner Oma wissen. Aber ihre ganzen Bekannten sind hier, hier in Wien.«
    »Sie könnten in Wien eine Gedenkfeier für sie abhalten lassen. Und sie in Deutschland bestatten lassen. Das wäre eine Möglichkeit.«
    Ich nickte. Ja, das wäre eine Möglichkeit.
     
    Der Besuch bei Herrn Cincek war rasch erledigt. Er bot mir Kaffee an, den ich ablehnte, und stellte mir noch ein paar Fragen,Mutter betreffend, die für ihn allerdings reine Routinefragen zu sein schienen. Dann eröffnete er mir, dass man aufgrund von Mutters schwerer Krebserkrankung (er sprach von Krebs im Endstadium und ich zuckte zusammen) von einem Suizid ausginge; dass man in der Wohnung eine Flasche Whiskey und ein Glas gefunden hatte und dass man diesen Whiskey bei der Obduktion in ihrem Körper nachgewiesen hatte, genauer gesagt einen erhöhten Alkoholblutwert von 1,1   Promille. Ob meine Mutter denn regelmäßig Alkohol getrunken habe? Als er hörte, dass ich keinen regelmäßigen Umgang mit ihr gepflegt hatte, lächelte er bedauernd und händigte mir die Hausschlüssel aus. In der Wohnung sei alles in Ordnung gewesen, keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens, keine durchwühlten Schränke, nichts. Einen Abschiedsbrief habe man allerdings nicht gefunden.
    Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Ich kann einfach nicht glauben, dass meine Mutter sich umgebracht hat.«
    In Cinceks Blick lag jetzt ein routiniertes Mitgefühl, vielleicht enthielt es auch eine Spur Ungeduld. Er löste die auf dem Tisch vor sich gefalteten Hände und sagte: »Ach, Maderl, wissen S’, das wollen die wenigsten glauben   …«
    »Könnte es nicht ein Unfall gewesen sein?«
    Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Über diese Brüstung fällt nur, wer darüber will«, sagte er leise und mit diesem angenehmen Wiener Singsang, der mich an Oskar Werner erinnerte. Ich rang mit mir, bevor ich die nächste, die eigentliche Frage stellte, die mir auf der Zunge brannte, die zu stellen mir aber gleichzeitig abenteuerlich und auch absurd erschien. Schließlich befanden wir uns nicht in irgendeiner Krimiserie, sondern in meinem, Maja Sternbergs Leben, das gerade aus den Fugen geraten war. Dennoch sagte ich: »Und wenn jemand sie gestoßen hat?«
    In Cinceks Blick lag immer noch dieses Bedauern und ich glaube, er hätte mir im Grunde gerne den Gefallen getan, aufmeine Vermutungen einzugehen. Höflich fragte er: »Haben Sie denn einen konkreten Grund für diese Annahme?«
    Ich schüttelte den Kopf, irritiert, was konnte ich darauf schon sagen.
    »Ach, schauen S’. Ihre Frau Mutter war sehr krank, wir haben mit dem Arzt gesprochen und auch die Obduktion hat ergeben, dass sie nicht mehr lange zu leben gehabt hätte. Lungenkrebs mit Metastasen in der Leber. Sie hatte wahrscheinlich Angst vor den Schmerzen, vielleicht hatte sie schon welche, sie war allein, glauben Sie mir, so etwas kommt viel häufiger vor, als Sie meinen. Erst vor zwei Tagen haben wir einen auf den Gleisen gehabt, auch ohne Abschiedsbrief. Es beginnt die Vorweihnachtszeit, die ist eh für viele Menschen kritisch, was meinen Sie, wer da alles durchdreht, auch ohne Krankheit!«
    Ich war drauf und dran, ihm von dem Umschlag zu berichten, doch in letzter Sekunde überlegte ich es mir anders. Was hätte das geändert? Cincek hätte mit den Achseln gezuckt und es hätte ihm alles auch weiterhin leidgetan. Ein Schlüssel und ein Foto, auf dem nichts Spektakuläres zu sehen war. Vielleicht hatte er recht. Es war sogar ziemlich wahrscheinlich, dass er recht hatte. Dieser Mann hatte Erfahrung mit dem Tod. Und mit Angehörigen, die sich schuldig fühlten und verzweifelt einen Freispruch für sich selbst erbaten. Die nach etwas suchten, das sie von ihrer Schuld entband, zur Not eben nach einem Sündenbock »draußen«. Ich erhob mich und streckte Cincek die Hand hin.
    »Also dann«, sagte

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