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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ich und er ergriff sie und drückte sie kurz und fest. Er reichte mir die Schlüssel und einen Ring, in Plastik eingetütet, und erkundigte sich danach, ob Mutter hier in Wien beigesetzt werden sollte, da sie ja »eigentlich Deutsche« sei. Ich nahm das Tütchen entgegen, murmelte eine unbestimmte Antwort, steckte es in meine Manteltasche und hielt es auch dort noch fest umklammert.
     
    Ich trieb durch die Stadt, in den Klauen meiner Erinnerungen. So viel war mir vertraut, von den zwei Jahren, die ich hier mit Mutter am Spittelberg, ganz in der Nähe der Siebensterngasse, gelebt hatte. Die zwei Volksschuljahre, die ich hier verbracht hatte. Und die dann ein so jähes Ende gefunden hatten. Ich schluckte. Nicht auch noch
daran
denken!
    Beim Christkindlmarkt am Alten Rathaus blieb ich schließlich hängen. Schon von Weitem leuchteten mir die riesenhaften roten Herzen, die Sterne, Schneemänner und Engel entgegen, die in den Bäumen hingen. Der Anblick war unglaublich, eine Fata Morgana aus dem Land der Schneekönigin in einer mitteleuropäischen Stadt. Wie seltsam herausgelöst aus der Welt musste das Ganze erst nach Einbruch der Dunkelheit wirken? Ich wünschte, Wolf wäre hier, ich könnte mit ihm hier herumschlendern und in seinen Armen das süße Nichts finden. Alles nur ein böser Traum. Ich überquerte den Ring und stieg in die Tram zum Schottenplatz, wo ich sitzen blieb, obwohl ich eigentlich hätte aussteigen müssen. Das Herumlaufen hatte mich müde gemacht. Der seltsame kleine Schlüssel und das Foto fielen mir ein. Warum nur hatte Mutter diese Gegenstände bei Lore Klopstock deponiert? Ich lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Die Stadt fuhr ratternd an mir vorüber, die blattlosen Bäume links und rechts der Straße, die ihre schwarzen Äste hoch in den Himmel reckten, als versuchten sie die Wolken zu berühren, die tief und grau über den Dächern hingen. Nun habe ich niemanden mehr, dachte ich plötzlich, in einem Anflug von bitterstem Selbstmitleid. Meine einzige leibliche Verwandte, meine Mutter, war tot. Oma war tot. Eine winzige Familie, deren einzige Überlebende ich war.
     
    In der Nähe des Doms stieg ich aus und bahnte mir meinen Weg zwischen Menschen mit Einkaufstüten hindurch. In Großstädten habe ich mich schon immer wohl gefühlt. Für mich hatte es etwas fast Buddhistisches, mich in der Anonymität einer Menschenmenge aufzulösen wie ein Tropfen, derim Meer mit all den anderen Tropfen verschwimmt. Wolf dagegen fühlte sich nur auf dem Land richtig wohl. Ich war inzwischen in der Fußgängerzone angekommen und blieb bei einer Frau stehen, nicht mehr ganz jung, vielleicht in meinem Alter, die Geige spielte. Sie stand allein unter all diesen Fremden und spielte. Auf ihrem Gesicht lag ein entspanntes, nach innen gerichtetes Lächeln. Als lauschte sie einem nur für sie hörbaren Meister, als läse sie von einem unsichtbaren Notenblatt. Sie spielte das Ave Maria, die Melodie bildete einen unwirklichen Kontrast zu der geschäftigen Einkaufsatmosphäre hier im ersten Bezirk. Vielleicht sollte ich Geige lernen, dachte ich plötzlich. Dann könnte auch ich an Tagen wie diesen meine innere Melodie wiederfinden. Ich warf eine Münze in den Geigenkasten, das Spiel verklang und im Davongehen hörte ich im Geiste die kratzenden Töne, die
ich
dem Instrument entlocken würde. Ich unterdrückte ein Grinsen.
    Im Stephansdom steuerte ich das Lichtermeer aus tausend Kerzen an, die auf zwei gigantischen Gestellen flackerten, zuckende kleine Flammen. Ich trat an einen der beiden Ständer, steckte Geld in einen Kasten, räumte ein paar abgebrannte Teelichter fort und entzündete an einem Licht zwei neue. Ich stellte sie ganz nach oben und setzte mich in eine der Bänke, in der vereinzelt ein paar Frauen saßen, auch ein alter Mann, der kniend betete. Ich versank in der Betrachtung der beiden Lichtlein. Lieber Gott, setzte ich an, doch mehr kam nicht. Ein paar Sekunden überlegte ich, was ich sagen könnte, doch ich kam auf nichts. Ich war kein Kirchgänger, im Endeffekt wusste ich noch nicht einmal, was ich eigentlich glaubte. Doch schließlich begann ich, stockend das Vaterunser zu flüstern.
Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit
. Ich spürte einen dicken Kloß im Hals, brach ab und blieb reglos sitzen.
     
    Die Zigarette knisterte, während ich einen tiefen Zug tat und den Rauch inhalierte. Es dämmerte, als ich endlich in der Siebensterngasse anlangte. Der indische Verkäufer vom

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