Herbstvergessene
die Vergangenheit haben.
Es war an einem Mittwochmittag, als ich ihre wütenden Stimmen aus dem Kohlenkeller hörte. Ich kam gerade heim, einen Korb mit den Lebensmitteln in der einen Hand, in der anderen die Schultasche, und im ersten Moment dachte ich, sie stritten wegen irgendetwas Banalem, so wie sie es früher oft getan hatten, Leni und Ingeborg. Doch dann hörte ich Ingeborg keifen: »… hast ihn nach Strich und Faden belogen!« Und Leni antwortete mit einem wütenden Zischen: »Das Ganze geht dich gar nichts an. Außerdem wollten wir ohnehin heiraten.« Und dann kam ein Laster die Straße entlanggerumpelt und ich hörte nur noch, wie Ingeborg auflachte, ein höhnisches Lachen, wie ich es gar nicht von ihr kannte. Am Abend dann, lange nachdem Leni gegangen war, sprach ich Ingeborg auf die Szene im Kohlenkeller an. Doch sie sah mich nur an, presste die Lippen aufeinander und schwieg. Am nächsten Tag brachte ich die Rede erneut darauf und diesmal sagte Ingeborg:»Sie hat ihm vorgemacht, sie wäre schwanger. Nur deshalb hat er sie geheiratet.«
Ich ging weiterhin auf die Handelsschule, lernte Schreibmaschine schreiben, quälte mich mit Stenografie und langweilte mich mit Buchhaltung. Auf meinem Schulweg kam ich an Pauls Apotheke vorbei. Jedes Mal, wenn das Schaufenster auftauchte, fing mein Herz an zu klopfen und ich eilte vorüber, mit hochrotem Kopf, und wagte es nicht, den Blick vom Bürgersteig zu heben. Und manchmal dachte ich auch an Ingeborgs Worte und daran, was nun die Wahrheit war. Eines Tages, ich hatte die Apotheke schon fast erreicht, trat Paul aus dem Laden und blickte mir entgegen. Ohne den Blick von mir zu nehmen, schaute er, wie ich auf ihn zuging. Als ich ihn erreicht hatte, blieb ich stehen und wir sahen uns an, wortlos, und die Welt um uns herum versank und es gab nur uns zwei, unsere Gesichter. Und seine Augen, die nicht auswichen und mich nur ansahen.
»Ich seh dich hier vorübergehen, jeden Tag«, sagte er.
Ich sagte nichts.
»Warum kommst du nicht herein?«
Ich schüttelte stumm den Kopf und murmelte, dass ich jetzt gehen müsse. Das Mittagessen. Und im Davongehen spürte ich seinen Blick, der auf mir lastete wie ein Gewicht.
Eines Tages, es war bereits Mitte Mai, entschloss ich mich, doch hineinzugehen. Ich weiß nicht mehr, was genau mich veranlasste, die Apotheke zu betreten, und wie ich überhaupt den Mut dazu aufbrachte. Vordergründig war es vielleicht die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie es wirklich gewesen war mit der Heirat von Leni und Paul. Doch tief in meinem Innern weiß ich, dass das Meer dahinter viel tiefer war.
Eine Glocke bimmelte, der Holzboden unter meinen Füßen knarzte, die Tür schlug zu hinter mir und Stille kehrte ein. Es schien niemand da zu sein. Doch dann drang aus dem hinteren Teil Pauls Stimme: »Ich bin gleich da!«
Mir wurde seltsam zumute, warum war ich gekommen, ich stand dort herum, fühlte mich töricht, mit meinen feuchten Handflächen und dem wild schlagenden Herzen. Da betrat Paul den Raum, blieb stehen und sah mich an.
»Du.«
Ich räusperte mich, brachte kein Wort heraus. Und dann ging alles ganz schnell, so schnell, dass ich noch heute nur den Wirbel sehe, den Strudel, von dem ich, von dem wir erfasst wurden. Er kam auf mich zu, nahm mich bei der Hand, führte mich nach hinten, in einen Raum, in dem – das ist meine einzige Erinnerung – unzählige Behälter herumstanden und eine Waage. Und dann küsste er mich, zärtlich und sacht. Und ich erwiderte seinen Kuss. Und dann versanken wir im Rausch einer Umarmung, die erst durch das erneute Läuten der Türglocke unterbrochen wurde.
»Morgen«, flüsterte er mir zu, »komm morgen wieder, dann werde ich dir etwas geben.«
Ich weiß nicht, was für einen Grund es gab, der ihn zu mir zog. Ich weiß nur, dass es tausend Gründe gab, die mich zu ihm zogen.
Am nächsten Tag ging ich wieder in den Laden, die Türglocke bimmelte wieder, doch diesmal betrat gleich hinter mir eine Frau die Apotheke. Paul stand hinter dem Tresen, vor dem deckenhohen Regal mit den unzähligen Fächern und Behältern. Sein Anblick raubte mir für einen Augenblick den Atem.
»Hier ist das Medikament für deine Mutter«, sagte er mit einer, wie ich fand, großen Leichtigkeit in der Stimme, die mir einen Stich versetzte. »Und guten Tag, Frau Ahrens, Ihre Tropfen sind fertig.« Und dann reichte er mir ein kleines Päckchen: »Sie soll es zweimal täglich vor dem Essen nehmen, sag ihr
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