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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Ladengegenüber nahm gerade seine Seidentücher von einer Stange, die draußen vor dem Schaufenster hing. Ein paar bunte Filztaschen baumelten noch an einem Ständer vor der Tür, unter einem roten Plastikdach. Es hatte zu regnen begonnen und das Haar klebte mir am Kopf. Die Tram kam, ich wechselte die Straßenseite und blieb vor Mutters Haus stehen und nahm noch einen tiefen Zug. Warum schaffte ich es einfach nicht, diese verdammte Wohnung zu betreten? Ich werde jetzt dort hinaufgehen, sagte ich mir mit zusammengebissenen Zähnen. Ich werde diese Wohnungstür aufschließen und endlich damit beginnen, Mutters Sachen zu sichten. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah an der Fassade des Hauses empor bis zu den obersten Fenstern, hinter denen die Wohnung lag. Es war ein beiges Gebäude, jugendstilartig verziert, die Fenster waren sehr hoch, und schmiedeeiserne, zu einer Blumenranke gewundene Eisen bedeckten den unteren Bereich. In jeder Etage war mindestens ein Fenster erleuchtet, auch bei Erna brannte Licht. Nur oben war alles dunkel. Oder täuschte ich mich? Flackerte da nicht etwas, im äußersten linken Fenster? Vielleicht spiegelte sich dort irgendeine andere Lichtquelle. Ich bewegte mich hin und her und hielt dabei den Blick unverwandt auf das Fenster gerichtet. Ich kniff die Augen zusammen, hinter mir fuhr die Tram summend vorüber, Reifen zischten auf nassem Asphalt. Da war es wieder, tatsächlich, ein wandernder Lichtschein, schwach zwar, aber deutlich zu erkennen. Als ginge jemand dort oben mit einer Taschenlampe durch den Raum. Plötzlich verschwand das Licht und alles war wieder dunkel. Ich starrte noch eine Weile nach oben, bis mir von der Anstrengung die Augen wehtaten und alles zu einem einzigen grauen Etwas verschwamm.

 
    Ich habe kein gutes Gedächtnis, an vieles erinnere ich mich nur lückenhaft, und wenn meine Freundinnen die Bilder ihrer Vergangenheit so deutlich vor ihren Augen zu sehen scheinen, dann staune ich und vergleiche sie mit meinen eigenen blassen, zerfledderten Momentaufnahmen, die oft zusammenhanglos und selten klar erscheinen.
    Eines der wenigen Bilder jedoch, das mit seinen scharfen Konturen und Farben überdeutlich in meine Erinnerung eingebrannt ist, ist jener Moment, als ich die Wohnzimmertür öffnete und Paul das erste Mal sah. Er stand am Fenster, das Profil mir zugewandt, ein sehr klares, sehr deutliches Profil, vielleicht, weil durch die Verandatür das Nachmittagslicht ins Zimmer fiel, so ein zerrissenes, wildes Licht, wie es an Frühlingstagen manchmal ist. Er stand neben Leni und wirkte sehr ernst, so ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte, so ganz anders, als ein Mann sein musste, der Leni gefiel, eigentlich. Ich hörte Stiefvater vom Krieg sprechen und Paul antworten. Und in diesem Moment drehte er den Kopf und wandte sich mir zu. Und es war, als würde die Zeit stillstehen. Ich blickte in sein Gesicht, seine Augen waren dunkel, so wie auch sein Haar. Ich hörte Mutter, die von Ferne zu Tisch bat, und Leni, deren Blick strahlte, und ich dachte, so ist das, wenn man beseelt aussieht.
    Die Konversation verlief schleppend. Ich sah Stiefvater, der monologisierte, Mutter, die weiße Kanne in Händen, den Tee, golden in hauchdünnem Porzellan. Ingeborg, die vielleicht an ihren Hans in Polen dachte, der bei der Waffen-SS war, und daran, dass sie hier alleine saß, ohne ihn. Und ich sah Leni in ihrem roten Kleid, wie mit Purpur übergossen. Ich nippte an meinem Tee, ließ denKuchen unberührt, entschuldigte mich, verließ das Zimmer und fühlte mich seltsam erleichtert.
     
    »Wo bist du mit deinen Gedanken?«, fragte mich Ingeborg beim Frühstück. Der Tee in meiner Tasse schimmerte rot, Hagebuttentee, und ich spürte ihren blauen Blick wie ein Gewicht auf mir und sah im Geiste Pauls Augen hinter den sich spiegelnden Brillengläsern. »An nichts Bestimmtes, an die neue Schule vielleicht«, antwortete ich und stand auf.
    Die ersten Tage nach meiner Rückkehr schlich ich durch die Stadt, stand unter den Bäumen der Alten Universität, schlenderte über den Altstädtischen Markt. Die Zeiger am Rathaus funkelten golden und eine schräge Sonne ergoss sich über das Dächergewirr auf die Marktstände und warf lange Schatten. An manchen Tagen stand ich am Pregel und sah hinein. Das Wasser war braun, fast schwarz, und ich stellte mir vor, wie es wäre, darin zu versinken. Katja, eine Freundin aus Kindertagen, besuchte mich und wir sprachen von früher, wie zwei Alte, die nur

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