Herbstvergessene
geklemmt, begann ich systematisch alle Papiere herauszuziehen und auf separate Stapel auf dem Boden zu verteilen. Es dauerte nicht lange, da war der Parkettboden mit Papieren übersät. Wo war Mutters Adressbuch? Einzig ihren Terminkalender fand ich. Ich legte auch ihn zur Seite, später würde ich einen Blick hineinwerfen. Wieder fiel mir der Laptop im Arbeitszimmer ein. Vielleicht verwaltete Mutter ihre Adressdaten inzwischen digital? Das musste ich später auf jeden Fall prüfen. Jetzt ging ich erst einmal Papier um Papier durch, kramte mich durch alte Rechnungen und Quittungen, Garantiescheine, Fahrkarten, ein altes Flugticket nach Miami fand ich auch. Also hatte sie ihre Flugangst letztlich doch überwunden. Ich schluckte, meine Hände machten weiter, mechanisch, nur nicht erinnern, nicht denken, nicht fühlen. Und hier war ja auch ihre Geburtsurkunde, die brauchte ich doch für die anstehenden Behördengänge. Sicher war es auch in Österreich so, dass nur begraben werden konnte, wer den Beweis erbrachte, dass er zuvor auch geboren worden war! Ich linste auf das Dokument mit den spitzen Sütterlinbuchstaben, nahm einen tiefen Zug von meiner Zigarette und kniff die Augen zusammen. Die altmodische Schrift bereitete mirMühe, doch schließlich entzifferte ich den Geburtsort: Hohehorst. Seltsam, dachte ich, mir war immer in Erinnerung, dass Mutter gesagt hatte, sie sei in Bremen auf die Welt gekommen. Auch kam mir der Ort vage bekannt vor, wo hatte ich unlängst von ihm gehört? Mit gerunzelter Stirn las ich weiter, das Datum:
05 . Mai 1944
. Ohne Zweifel war das Mutters Geburtsurkunde. Weiter stand in der Urkunde Oma Charlottes Name. Aber wo war denn der Kindsvater eingetragen? Mit dem Finger fuhr ich das fremde Schriftbild nach, einmal, zweimal. Ich schluckte. Wo war denn Omas Mann eingetragen? Nein, es bestand kein Zweifel: Der Kindsvater war in dieser Urkunde mit keinem Wort vermerkt.
Ich bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass mein Großvater im Krieg als vermisst gemeldet wurde und niemals wiedergekehrt war. Daher verwirrte mich die fehlende Eintragung dieses leiblichen Vaters meiner Mutter, meines Großvaters, komplett. War Oma Charlotte gar nicht mit ihm verheiratet gewesen? Ich starrte vor mich hin und Bilder Charlottes erschienen in meinem Innern, lösten einander ab und verschwanden wieder. Dazwischen tauchte immer mal wieder Gustav Benthin auf, der einzige Opa, den ich je gekannt hatte. Wie war es möglich, dass ich nie näher darüber nachgedacht hatte? Alles, was ich wusste, war, dass Oma irgendwann nach dem Krieg Gustav Benthin geheiratet hatte, in einer fernen und unwirklichen Vergangenheit. Ich hatte einfach angenommen, dass sie davor mit dem Vater ihres Kindes verheiratet gewesen war. Und es war auch nicht die eigentliche Entdeckung, nämlich die Ehelosigkeit, die mich bestürzte; vielmehr war es die Bedeutung, die dahinterstecken musste: Vielleicht waren sie verlobt gewesen, damals, sie und ihr Paul. Vielleicht hatten sie kurz vor der Hochzeit gestanden. Und dann war er gefallen? Aber war es damals nicht so etwas wie eine Schande gewesen, ohne Trauschein ein Kind zu erwarten? Sie hatte nie etwas erwähnt, nie etwas erzählt, ich konnte es gar nicht fassen.Auf einmal erschien mir die Verschwiegenheit, die in meiner Familie in Bezug auf Opa Paul geherrscht hatte, in einem anderen Licht. Meine Familie, dachte ich und schluckte. Meine Familie, das waren ohnehin nur Charlotte, Mutter und ich gewesen. Und eine Schwester von Opa Benthin, Cecilie, die aber als junges Mädchen nach Amerika gegangen war und die ich nie kennengelernt hatte.
Jetzt brauche ich erst einmal einen Kaffee, dachte ich und ging mit mulmigem Gefühl in die Küche. Öffnete Schranktüren, holte den rot-weißen
Hotel Caffee
heraus und setzte Wasser auf. Ordnung, dachte ich. Die Ordnung, die hier herrschte, war mustergültig. Sie war mir vertraut, das war die Mutter, die ich gekannt hatte. Die Kaffeebohnen knackten, als ich den Knopf an der Mühle drückte. Meine Mutter war ein uneheliches Kind. Und erst jetzt wurde mir in aller Deutlichkeit bewusst, dass Oma Charlotte nie, niemals von ihren Eltern erzählt hatte und nur wenig von ihrem Paul, der Liebe ihres Lebens. Ich tat das Pulver in den Filter, mir schwirrte der Kopf. Da war noch etwas anderes, das nicht stimmte. Das Wasser brodelte, ich bebrühte den Kaffee und plötzlich wusste ich es: Es war das Bild. Das Bild, das ich gefunden hatte, in dem Umschlag, den Mutter bei
Weitere Kostenlose Bücher