Herbstvergessene
Lore Klopstock gelassen hatte. Etwas daran war falsch, und zwar das Datum.
Wir beide in Hohehorst, März 1944,
das hatte dort gestanden. Wie konnte es sein, dass Oma ein kleines Kindchen auf dem Arm hielt, an einem sonnigen Märztag im Jahre 1944, wenn doch meine Mutter erst am 5. Mai 1944 auf die Welt gekommen war?
Die Wohnung der Mahlers, in der wir uns liebten, strahlte eine müde Traurigkeit aus, als hätte sie damals schon gewusst, dass ihre Besitzer niemals wiederkehren würden, dass überhaupt bald niemand mehr in diesem Haus wohnen würde. In diesem verlassenen Wohnzimmer lagen wir und liebten uns, auf dem Boden vor dem Fenster, Paul über mir, in seiner dunklen Makellosigkeit, noch heute sehe ich die Mittagssonne auf seine nackte Haut scheinen, auf seine Arme, seine Hände, die mich halten, die meine Brüste berühren, ich sehe sein Haar, das sonst fast schwarz erschien, in einem kastanienbraunen Feuer aufleuchten, die kleine Narbe über der Oberlippe eine schmale Kerbe. Und seine Augen sind wie schwarzer Samt.
Die Eigentümer der Wohnung waren fort, verschwunden, untergetaucht. Sie hatten die Stadt und vielleicht – so hoffte Paul – auch das Land verlassen. Er hatte sie gut gekannt, sie waren in die Apotheke gekommen, über viele Jahre, ein älteres Ehepaar, kinderlos, sie Jüdin, er ein sogenannter Christ. Sie hatten ihre Medikamente bei ihm und zuvor auch schon bei seinem Vater geholt. Und eines Tages hatten sie ihm die Schlüssel in die Hand gedrückt und ihn gebeten, in der Wohnung nach dem Rechten zu sehen, bis zu ihrer Rückkehr. Das war vor über einem Jahr gewesen und seitdem stand die Wohnung leer.
Als ich nach Hause kam, an jenem ersten Nachmittag, nachdem ich Paul in der Mahler’schen Wohnung getroffen hatte, waren Mutter, Stiefvater und Ingeborg schon längst mit der Mahlzeit fertig. Ihre Teller waren abgeräumt und einzig mein Gedeck stand nochda, die Terrine mit der erkalteten Suppe auf einem Untersetzer in Tischmitte. Ich setzte mich, die Standuhr in der Ecke tickte, es schlug zwei Uhr. Ich schöpfte mir von der Suppe, tauchte den Löffel ein, das Klingeln des Löffels am Tellerrand klang unwirklich in das Ticken und in die Stille hinein.
Und auch das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen: wie die Tür aufging, wie mein Stiefvater hereinkam und ein ungezügelter Zorn seine Züge verzerrte, wie er die Hand hob und mich ins Gesicht schlug, erst links, dann rechts. Und wie er mich anschrie und beim Schreien spuckte, wo ich jetzt herkäme und was mir einfiele, und wie meine Mutter in der Tür stand und mich ansah, traurig und ein wenig resigniert, aber auch ängstlich. Und dabei dachte ich die ganze Zeit nur an Paul.
Seit unserem ersten Treffen in der Mahler’schen Wohnung kamen wir so oft es ging dort zusammen. Wenn ich heute an diese Zeit mit Paul zurückdenke, dann erscheint sie mir wie ein bittersüßer Traum von Liebe und von Schmerz. Nie wieder habe ich so tief für einen Mann empfunden, nie wieder haben mich meine eigenen Gefühle so weit emporgewirbelt und so tief hinabgezogen in diesen Strudel, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. In diesen Wochen begann mein Leben der Lügen. Ich belog sie alle, Mutter, Ingeborg, Leni, die Lehrer, und bald waren die gestohlenen Stunden mit Paul das Einzige, was zählte. Wir stahlen die Zeit und lebten davon. Und das Erschreckende dabei war, dass ich kaum Gewissensbisse hatte, dass ich ihnen in die Augen sehen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Wir entwickelten die Routine von Betrügern und der Betrug wurde uns so sehr zur Gewohnheit, dass er – fast – zur Normalität wurde. Nur in den Nächten lag ich manchmal wach, lauschte in die Dunkelheit und rechtfertigte unser Tun damit, dass Lenis und Pauls Heirat schließlich ihrerseits auf einem Betrug gründete. Doch kaum hatte ich diesen Gedanken gefasst, überkam mich die Frage, wie es sich denn mit
meiner
Liebe verhielt, die auf unzähligen Lügen gebaut war.
Mit dem Kaffeehaferl in der Hand kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und starrte auf die Geburtsurkunde. Hatte Oma noch ein anderes Kind gehabt, vor Mutter? Gab es eine Schwester, einen Bruder, einen Onkel, eine Tante, von der ich nichts wusste? Ich kramte in meiner Tasche und zog den Umschlag heraus. Mit fahrigen Fingern hielt ich das Bild vor mich. Noch etwas fiel mir jetzt auf. Wie hatte ich das übersehen können? Das Kind auf dem Foto hatte dunkles Haar. Ich kannte mich nicht besonders gut aus
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