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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ich schließlich, vielleicht aus Gründen der Wehmut, vielleicht auch nur aus dem einfachen Bedürfnis nach Behaglichkeit, im
Café Central
in der Herrengasse. Wie zu erwarten gewesen war, musste ich, zusammen mit ein paar japanischen Touristen, eine Weile am Eingang herumstehen und hatte Muße genug, meinen Blick schweifen zu lassen. Über die summende Menschenmenge, die verteilt an runden Tischen auch die hintersten Winkel des Kaffeehauses bevölkerten. In den Ferien, wenn Oma und ich Mutter besuchten, hatten wir hier gesessen, manchmal war auch Mutter auf einen Braunen dazugekommen. Omahatte meist einen Altwiener Suppentopf genommen und sich danach einen Fiaker gegönnt. Im Gegensatz zu Mutter hatte Oma sonst niemals Alkohol getrunken und ein Fiaker im
Central
war für sie das Höchste der Gefühle gewesen. Sie war auch, da sie Alkohol nicht gewöhnt war, recht schnell recht lebendig geworden. Mit geröteten Wangen, wie ein junges Mädchen, hatte sie dann manchmal ein wenig mehr erzählt als sonst. Doch meist war sie an mir interessiert gewesen und hatte nach meinen Schulfreunden, später nach meinem Studium, nach meinen Träumen und Kümmernissen gefragt. So war das vorzeitige und abrupte Ende meiner Dolmetscherlaufbahn für Oma sicher weniger überraschend gekommen als für Mutter, der ich nie viel von meinen künstlerischen Ambitionen verraten hatte und die auch nicht wusste, was ich eigentlich in England in den Semesterferien tat. Natürlich hatte ich auch meine Sprachkenntnisse vertieft, aber ich saß dort nicht die ganze Zeit in Kabinen herum, um mein Simultandolmetschen zu perfektionieren. Ich richtete es mir etwas anders ein und besuchte »nebenher« die skurrilsten Seminare, in denen ich lernte, Lampenschirme herzustellen, Stoffe zu bemalen, Wände zu wischen, Schabracken zu nähen und Sessel zu polstern. Hier im
Central
war es auch gewesen, an jenem Tisch in der Nische links neben dem Eingang, als Oma mir erzählt hatte, dass Paul die Liebe ihres Lebens gewesen war. Und dann war der Ober gekommen und Oma war verstummt und ich hatte den Kerl verflucht, dass er gerade in diesem Moment hatte heranrumpeln müssen.
    Vielleicht war ich deswegen hier gelandet, vielleicht hatten unsichtbare Fäden mich hierher gezogen, vielleicht hoffte ich, hier, in dieser Umgebung, die für mich ein Stück meiner Vergangenheit war, die Geister zu beschwören und mich an etwas zu erinnern, was in den Tiefen meines Gedächtnisses verschwunden war. Ein Tisch wurde frei, ich setzte mich auf die gepolsterte Bank. Ich war erschöpft und mir war ein wenig elend vor Hunger. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr,es war schon vier und ich hatte seit dem Frühstück nichts gegessen. Draußen breitete sich nun die Dämmerung aus, aber hier war es festlich, hell und warm. Der schwarze Flügel stand immer noch in der Mitte des Raumes, die Ober steckten immer noch in ihren schwarzen Anzügen, die gotischen Säulen verliehen dem Raum immer noch diesen altmodischen Zauber.
    Ich bestellte den Altwiener Suppentopf, ein Wasser, Powidltascherl als Nachtisch und am Schluss einen Fiaker. Der Kellner sagte tatsächlich »sehr wohl« und ich fragte mich, warum das in Deutschland niemand mehr sagte. Dann rief ich Wolf an, berichtete kurz von meiner Entdeckung und Verwirrung, küsste ihn sogar in einem Anflug von Wärme tausendmal durch die Luft, was ihn verstummen ließ, worüber ich mich dann schon wieder ärgerte.
    Nach der Suppe und den Powidltascherln holte ich Mutters Terminkalender aus der Tasche. Vielleicht war da die eine oder andere Adresse eines Freundes verzeichnet. Ein Adressbuch hatte ich immer noch nicht gefunden und auch in ihrem Laptop war ich auf keine elektronische Datenverwaltung gestoßen. Mutter hatte noch nicht einmal eine E-Mail -Adresse gehabt. Ich zündete mir eine Zigarette an – natürlich hatte ich um einen Tisch im Raucherbereich gebeten – und blätterte zunächst lose durch den Kalender. Als ich dabei nichts entdeckte, begann ich vom Januar an systematisch Seite um Seite durchzusehen. In ihrem Kalender hatte Mutter nicht nur ihre Termine verzeichnet, sondern, wie ich sah, auch Anmerkungen und Kommentare festgehalten. Ich schluckte. Unter einem Termin bei Dr.   Prohacek vor neun Wochen stand – es kam mir vor wie die Eintragung eines in die Jahre gekommenen Friedensaktivisten –:
Chemo ? Nein danke!
In den Wochen darauf waren keine Termine mehr bei ihm verzeichnet, dafür vier Eintragungen, jeweils an

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