Herbstvergessene
war das nicht Alltag?
Einen Augenblick lang sinnierte ich noch über die Liebe in Zeiten der Alltagsroutine, doch dann stieg aus den Katakomben meines Unterbewusstseins eine Frage empor, die viel schwerwiegender war als Wolfs eifersüchtelnder Unterton: Wer war dieser Anrufer gewesen? Und woher wusste dieser Mann, dass ich in Wien war? Und dann fiel mir plötzlich auch noch das Licht in Mutters Wohnung ein, das ich vom Bürgersteig aus gesehen hatte. Abrupt erhob ich mich. Zu sehen geglaubt hatte! Das wurde ja immer bunter mit mir. All das führte doch zu nichts. Ich würde mir hier doch nicht selbst einheizen und mir irgendwelche Gruselgeschichten zusammenstricken!Nein, ich fror, ich war müde, natürlich ist man da empfänglich für alles Mögliche. Und warum saß ich hier eigentlich auf der Treppe herum? Es konnte Stunden dauern, bis Erna nach Hause käme, und so lange würde ich es hier im Treppenhaus, mit den Halsschmerzen, die immer schlimmer wurden, nicht aushalten. Und wenn ich nicht in Mutters Wohnung übernachten wollte, hätte ich wahrscheinlich keine andere Wahl, als noch einmal im
Hotel Kugel
nebenan um Asyl nachzusuchen. Wahrscheinlich wäre es das Beste, Erna einen Zettel unter der Tür durchzuschieben, damit sie Bescheid wüsste, wenn sie wiederkam. Ich kramte in meiner Tasche nach Stift und Papier, schrieb meine Nachricht auf einen Kassenzettel und schob ihn unter der Tür durch.
Es dauerte keine zwei Sekunden, da wurde die Tür aufgerissen und Erna Buchholtz erschien auf der Schwelle und starrte mich an. Ihr Gesichtsausdruck war steinern und der Blick aus ihren schwarzen Augen bohrend. Der Ausdruck verschwand allerdings so rasch, wie sie die Tür aufgerissen hatte: »Ja, was machen Sie denn da? Und wie sehen Sie denn aus, Kind, total durchnässt!«
Ich murmelte etwas von »nicht da«, vom Hotel und sie zog mich herein, noch während ich versuchte, ihr eine Erklärung abzugeben. Sie nahm mir den nassen Mantel ab, hängte ihn auf einen Bügel und sagte barsch: »Unsinn, wo soll
ich
denn schon gewesen sein!«
Der Entschluss, es nun endlich hinter mich zu bringen, überrumpelte mich, er kam ganz plötzlich und wie von außen. Auf einmal war mir klar, dass ich es
jetzt
tun musste, dass ich sofort nach oben gehen musste, solange ich diese Zielstrebigkeit spürte. Und so entschuldigte ich mich hastig bei Erna, stieg ohne anzuhalten die Treppe hoch, schloss die Tür auf und betrat ohne zu zögern Mutters Wohnung.
Es roch ein wenig muffig, ungelüftet, wie wenn ein Bewohner auf Reisen ist und man zum Blumengießen seine Wohnungbetritt. Mutter war immer viel auf Reisen gewesen, schon beruflich bedingt. Auf manche ihrer Reisen hatte sie mich mitgenommen, in den Ferien. Meine Kindheit fiel verschiedenen Internaten zum Opfer. Bis mich irgendwann Oma Charlotte zu sich holte. In diesen Instituten in der Schweiz, die alle irgendwie gleich waren, hatte ich mit anderen Leidensgenossen abgeschottet von der Wirklichkeit gelebt, in einer künstlichen Welt voller Machtkämpfe, bei denen es um die Stellung in einer unsichtbaren Schülerhierarchie ging. Die Schulferien waren dann wie Freigänge, ja, im Grunde stellte ich mir das Inhaftiertsein nicht anders vor als unser Internatsleben. Und in den Ferien der Ausbruch, entweder in die ebenfalls surreale Welt meiner Mutter oder – und das zog ich vor – zu Oma Charlotte, wo ich das erlebte, was mir wie eine echte Kindheit vorkam.
Ich schloss die Tür hinter mir, einen Moment lang überwältigt von den Erinnerungen. Hier war es gewesen, hier hatte ich gestanden und ihre Stimmen aus der Küche gehört, leise und gedämpft zwar, und dennoch hatte ich alles verstanden, jede Silbe, jeden Satz. In ihrer schneidenden Wahrheit hatten sie sich mir eingebrannt, diese Worte, und noch immer schmerzten sie, weniger zwar, dumpfer, wie eine alte Narbe, die bei Wetterwechsel hin und wieder zu pochen beginnt.
»Dieses Kind ist der Nagel zu meinem Sarg!« Das war Mutter.
»Wie kannst du so etwas sagen, über dein eigenes Kind?« Großmutter.
»Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe? Dieser Anruf hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Versetzung gefährdet, das kann ja wohl nicht wahr sein. In der sechsten Klasse!«
»Auf jeden Fall halte ich es für keine gute Lösung, sie wieder in ein anderes Internat zu verfrachten.«
»Sag mir lieber, was ich tun soll – was ich nicht tun soll, bringt mich nicht weiter! Mein Gott, ich bin berufstätig undaußerdem habe ich
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