Herbstvergessene
geschenkt. Und all diese Bildchen hingen nun, in regelmäßigem Abstand von drei Zentimetern, wie zu einer Formation der Erinnerung angeordnet, in schwarzen Rahmen an Mutters Wohnzimmerwand. Sie musste sie nach Oma Charlottes Tod mitgenommen haben. Die ungeschickten Malereien des hässlichen Kindes waren es wert, an dieser Wand zu hängen, dachte ich und wischte sie in einem Anfall von Wut von der Wand.
Aufgewühlt wanderte ich im Zimmer umher, trieb aus dem Wohnzimmer in die anderen Räume, Schlafzimmer, Bad, Gäste- und Arbeitszimmer. Die Wohnung war riesengroß, ein Mensch allein musste sich darin verloren fühlen. In der Küche blieb ich stehen. Hier herrschte die erwartete Bulthaupt’sche Ordnung, wie ich sie von früher her kannte: wohldurchdacht, funktional und steril. Allerdings, so registrierte ich mit einigem Erstaunen, stand da zwischen den modernen Hochglanzfronten immer noch der alte Gasherd aus ihrer früheren Wohnung. Ich öffnete Schranktüren, auch innen soldatische Disziplin. Ich stellte fest, dass Mutter immer noch eine Vorliebe für Malventee hatte. Gehabt hatte. Und für
Schweizer Hotel Caffee
, in seiner rot-weiß gestreiften Packung. Das Geheimnis dieses Kaffees lag, so hatte Mutter immer gepredigt, in der speziellen Röstung, die eine Mischung aus deutscher und italienischer Art war. Manches hatte einfach Bestand. Selbst über den Tod hinaus. Ich klappte die Schranktüren wieder zu, ging zurück ins Wohnzimmer. Im Vorübergehen vermied ich es, die Kinderzeichnungenauf dem Boden und auch das Dreierbild anzusehen, und stellte mich vor die Terrassentür. Hier war es also geschehen. Auf dieser Terrasse mit den Terrakottakübeln, die schon ein Winterkleid aus Bast trugen. Ganz an die Hauswand geschoben stand ein Tisch, die Stühle dazu waren auf die Seite geräumt, übereinandergestapelt und mit einer Plane bedeckt worden. Die Kübel säumten den gesamten Geländerbereich, und jetzt verstand ich, was Cincek gemeint hatte: Wer hier verunglücken wollte, musste sich schon Mühe geben und ein bisschen nachhelfen. So ohne Weiteres würde hier keiner den Weg über die Brüstung finden; selbst in völlig betrunkenem Zustand würde man sich im Grün verfangen und wahrscheinlich vor den Töpfen straucheln. Ich schluckte. Später, ich würde das später ansehen, jetzt fühlte ich mich nicht in der Lage, mich über dieses Geländer zu beugen und hinunterzusehen.
Ich drehte mich um, zum Schreibtisch. Eine Liste. Ich bräuchte eine Liste ihrer Freunde und Bekannten. Ich musste endlich die Trauerfeier organisieren, hier in der Wohnung, und dazu würde ich die Sterbeanzeige verschicken müssen, mit der Einladung. Flüchtig dachte ich daran, dass ich im Arbeitszimmer einen Laptop mit Internetanschluss gesehen hatte. Aber den würde ich mir später vornehmen. Ich setzte mich vor den Schreibtisch und öffnete eines der Türchen, zog die oberste Schublade auf. Ich hielt inne. Ich hatte dieselbe disziplinierte Ordnung wie in der Küche erwartet und wusste aus der Vergangenheit, dass es früher auch so gewesen war. Offenbar hatte Mutter in der letzten Zeit aber nicht mehr viel Wert auf Übersicht gelegt. Ob das mit der Krankheit zusammenhing? Ich zog weitere Schubladen auf, öffnete auch die anderen Türchen. Im Gegensatz zum Inhalt der Küchenschränke herrschte hier überall Chaos: Rechnungen, Papiere und Büromaterialien, Prospekte von Kreuzfahrten (seit wann interessierte sich Mutter für so was?), einige – noch volle – Packungen Gauloise waren einfach so hineingestopft worden, zum Teil so, dass Ecken geknickt und die Zigarettenpackungen zerdrücktwaren. Und diese Postkarten kannte ich doch. Ich drehte sie um und sah auf meine eigene Handschrift. Sie hatte sie alle aufbewahrt, die wenigen Geburtstags- und Weihnachtsgrüße, die ich ihr in den Jahren unseres Schweigens geschickt hatte. Ich selbst hatte Mutters Karten nach kurzem Überfliegen sofort ins Altpapier verfrachtet. Nur nicht darüber nachdenken, sich lieber auf etwas anderes konzentrieren. Zum Beispiel auf die für Mutter so unpassende Unordnung. Mir wurde seltsam zumute. Ich stand auf und öffnete auch die Türen der Anrichte und des antiken Kirschholzschranks. Derselbe Anblick. Ich holte tief Luft. Jetzt brauchte ich eine Zigarette. Zuerst einmal einen Aschenbecher finden. Ich rannte herum; im Esszimmer fand ich schließlich den altvertrauten kristallenen und setzte mich damit wieder an den Sekretär. Die Zigarette zwischen die Lippen
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