Herbstvergessene
mit kleinen Kindern, ich hatte auch einmal gehört, dass die Haarfarbe bei der Geburt nicht die endgültige sei, und deshalb hatte ich wohl automatisch angenommen, dass Mutter als winziger Säugling eben dunkles Haar gehabt hatte. Auch war auf dem Bild nicht zu erkennen, ob Oma Charlotte schwanger war, denn man sah darauf nur die beiden Gesichter und Omas Hände, die das Kind hielten. Auf jeden Fall war klar: Wenn Mutter am 5. Mai 1944 auf die Welt gekommen war, dann konnte dieser Zwerg, der sicher keine zwei Monate alt war, nicht auch noch Großmutters Kind sein. Aber wer war es dann? Ich nahm einen großen Schluck Kaffee von meinem Pott und seufzte. Dann musste es eben ein anderes Kind sein, das Kind einer guten Freundin vielleicht. Mein Blick schweifte erneut zur Geburtsurkunde. Der Ort. Bislang hatte ich immer etwas mit Bremen gedacht. Aber vielleicht lag dieses Hohehorst ja in der Nähe. Ich ging ins Arbeitszimmer, schaltete den Laptop ein, wartete, bis er hochgefahren war, überzeugt, dass kein Password erforderlich sein würde, um etwas mit der Kiste anfangen zu können. Mutter war weder ein besonders vorsichtiger noch ein besondersängstlicher Typ gewesen. Kurz darauf öffnete ich den Internet Explorer und googelte
Hohehorst
. Auf dem Bildschirm erschienen 5220 Einträge zu diesem Stichwort.
Therapiezentrum Hohehorst
, das war der vorherrschende Eintrag zu dieser Lokalität, die wohl so etwas wie eine Suchtklinik zu sein schien, und ja, sie befand sich in der Tat bei Bremen. Ich klickte auf den ersten Eintrag. Es öffnete sich das Bild eines stattlichen Anwesens und es dauerte nicht lange, bis ich begriff, dass Hohehorst gar kein Ort im Sinne einer Gemeinde oder eines Dorfes war: Es war ein Haus. Ich war irritiert. Sollte Oma Charlotte dort gelebt haben? In diesem hochherrschaftlichen Umfeld? Ich scrollte weiter nach unten, öffnete noch einige der Suchergebnisse. Und landete auf einer Seite, die da hieß:
Der Lebensborn – Heim Hohehorst.
Ich stutzte, klickte darauf. Und alles erschien in einem anderen Licht.
Als ich Stunden später – immer noch ohne Adressliste – nach draußen ging, um mir etwas zu essen zu besorgen und Licht und Luft in meine Gedanken zu bringen, polterten mir alle möglichen Begriffe im Kopf herum. Herausgefunden hatte ich Folgendes: Das Anwesen Hohehorst, im Besitz der Familie Lahusen, einer Bremer Wollfabrikanten-Dynastie, war 1937 an den Lebensborn e. V. verkauft worden und wurde im Mai 1938 als
Heim Friesland
offiziell als Entbindungsheim eröffnet. Über den Lebensborn wusste ich nur wenig. Natürlich war mir der Name schon irgendwo untergekommen und ich hatte eine etwas nebulöse Vorstellung von einer Organisation, die in dem Ruf stand, als Zuchtanstalt der Nazis gedient zu haben. Im Internet stand allerdings etwas anderes, weitaus Nüchterneres, was wahrscheinlich eher den Tatsachen entsprach: Der Lebensborn diente Frauen, die »in Not« geraten waren, das heißt unverheirateten Frauen, die schwanger wurden, als eine Art Auffangstätte, an die sie sich vor der Entbindung begeben konnten, wo sie ihr Kind auf die Welt bringen und dort zum Teil auch nach der Niederkunft bleiben und arbeitenkonnten. Dies geschah in völliger Anonymität und in der Sicherheit, dass zu Hause niemand von Schwangerschaft und Niederkunft erfahren würde. Auch konnten die Frauen, wenn sie wollten, das Kind zur Adoption freigeben und dann nach Hause zurückkehren, als wäre nichts geschehen. Das Foto fiel mir ein. Sollte meine Oma in so einem Heim entbunden haben?
Hohehorst hatte dem Lebensborn – mit einer Unterbrechung, als das Heim wegen der Bombardierung Bremens evakuiert wurde – bis Mai 1945 als Entbindungsheim gedient. Nach dem Krieg dann besetzten die Alliierten das Gebäude. Mir schwirrte der Kopf. Ich war inzwischen unten vor dem Haus angekommen und überlegte, welche Richtung ich einschlagen und was ich essen wollte. Ich beschloss, zu Fuß zur Mariahilfer Straße zu gehen und dann weiterzusehen. Ich schritt schnell aus und sah nicht viel von meiner Umgebung. Warum hatte Oma mir nie von der Zeit in diesem Heim erzählt? Warum hatte sie es noch nicht einmal erwähnt? Hatte Mutter davon gewusst? War diese Phase in Großmutters Leben etwas, was sie ganz ausgeklammert und aus ihrem Bewusstsein verdrängt hatte, vielleicht, weil sie mit schmerzlichen Erinnerungen verbunden war?
Nach einem ausgedehnten Spaziergang durch die vorweihnachtlich geschmückten Straßen Wiens landete
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