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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Donnerstagen:
Dr . Berghof   – Naturheilverf.
Und hier war sie ins Krankenhaus gegangen,
CA
stand dabei. Auffällig war, dass sie in den letzten Wochen wenig private Termine verzeichnet hatte, wohingegen sie davor,eigentlich das ganze Jahr über, regelmäßigen Umgang mit allen möglichen Leuten gepflegt hatte. Da ein Dolmetscher-Stammtisch, zu dem sie gegangen war, dort ein Treffen mit ihren Kodo-Kolleginnen vom AIIC, der Internationalen Vereinigung der Konferenzdolmetscher, dann hatte sie diverse Treffen, Abendessen und Kinobesuche vermerkt:
Mit Trude im Kino, Cinema d’Arte , ein deprimierendes Spektakel, nicht das, was ich gerade JETZT brauche.
Außerdem hatte sie wohl ein Abonnement im Burgtheater gehabt. Im April fand ich Eintragungen über Dolmetsch-Seminare am Zentrum der Translationswissenschaft der Universität Wien, bei denen sie Vorträge zum Thema Konsekutivdolmetschen gehalten hatte. Und plötzlich hörte ich im Geiste ihre Stimme: »Ist doch halb so wild. Alle, die bei diesen Konferenzen sitzen, haben halb so gut aufgepasst wie ich und nicht halb so viel behalten von dem, was der Redner gesagt hat.« Das war im Grunde genau das, was ich auch glaubte. Und dennoch war ich selbst jedes Mal vor Aufregung ganz krank gewesen, obwohl es dann doch immer irgendwie geklappt hatte. Und das war der grundlegende Unterschied zwischen Mutter und mir gewesen: Sie hatte es geliebt, dort am Rednerpult zu stehen. Sie hatte das als Beweis ihrer Lebendigkeit gebraucht. In diesen Augenblicken, sagte sie, sei sie ganz »präsent«. Ich hatte mich vom ersten bis zum letzten Dolmetscheinsatz unwohl gefühlt. Und dann hatte ich – von einem Tag auf den anderen – entschieden, dass ich all das nicht brauchte, um präsent zu sein.
    Der Fiaker kam, ich löffelte noch mehr Zucker hinein und trank. Dann kramte ich einen Zettel heraus und notierte mehrere Namen, die ich im Kalender gesehen hatte. Trude, Gerlinde, Sabine, Dr.   Prohacek, Lore und so weiter. Zu einigen wusste ich selbst den Nachnamen. Lotte Palmstengel klang vertraut. Ich blätterte weiter. Hier war ein Termin bei einem Dr.   Reuther vermerkt, der, wie es aussah, in Frankfurt angesiedelt war. Wahrscheinlich hatte Mutter hin und wieder auswärts gedolmetscht. Ich würde ihn anrufen und fragenmüssen, wie nahe er Mutter gestanden hatte. Und nun war ich bei der Woche angelangt, in der Mutters Anruf mich erreicht hatte. Ich war neugierig, ob sie an diesem Tag irgendetwas eingetragen hatte, was mich betraf. Da erst stellte ich fest, dass die Woche vor Mutters Anruf fein säuberlich herausgetrennt war. Warum um alles in der Welt hatte Mutter die Woche herausgerissen, sodass es aussah, als habe sie nie existiert?
     
    Den Abend und auch den frühen Morgen des nächsten Tages verbrachte ich damit, noch einmal gründlich nach Mutters Adressbuch zu suchen. Als ich auch dieses Mal nichts fand, machte ich mich daran, die Namen der Personen, die ich dem Kalender entnommen hatte, im Wiener Telefonbuch nachzuschlagen oder bei der Auskunft zu erfragen. Ich erfuhr, dass Lore Klopstock noch immer im Krankenhaus war, doch Lotte Palmstengel erklärte sich sofort bereit, zu kommen und mir zu helfen, eine Liste von Mutters Freunden, Bekannten und ehemaligen Kollegen zusammenzustellen. Ich rief bei der
Bestattung Wien
an und machte einen Termin für ein Gespräch. Gegen Mittag wollte Wolf ankommen und ich hatte ihm gesagt, ich würde ihn in Schwechat abholen.
    Eine gute Stunde später stand Lotte Palmstengel vor der Tür, mit silberbläulichem Haar, in strengem Kostüm, ganz Dame von Welt. Ich bildete mir ein, diesen wasserblauen Blick schon einmal auf mir gespürt zu haben, doch eine konkrete Erinnerung wollte sich nicht einstellen. Sie erzählte, sie habe viele Jahre mit Mutter »in der Kabine« gesessen. Sie trug lange, fliederfarbene Handschuhe, die sie für den Opernball mit einem Traum aus lila Chiffon hätte kombinieren können und die sie nun, noch auf der Schwelle, abstreifte, wodurch sie elegant und zupackend zugleich wirkte.
    In der Tat war es so, dass ich um kurz nach halb elf eine ziemlich lange Liste mit Namen, Adressen und Telefonnummern in Händen hielt. Ich kam mit Lotte Palmstengel überein, dass es sinnvoll wäre, zusätzlich noch eine Anzeige in die WienerZeitung zu setzen, für all diejenigen, die Frau Palmstengel nicht kannte oder schlicht vergessen hatte. Ich telefonierte mit einem Pfarrer wegen des Gedenkgottesdienstes und noch einmal mit der Polizei, weil ich

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