Herbstvergessene
wir Seite an Seite die Treppe hinuntergingen, hakte ich mich bei ihm unter und ignorierte seine schlechte Laune. Es war sonnig an diesem Tag, doch ich war dankbar, ins Halbdunkel der Gastwirtschaft abtauchen zu können. Das Licht draußen machte mich unruhig, es signalisierte eine Art von Sorglosigkeit, ja Verheißung, die mir im Moment unpassend vorkam. Wir aßen Pfandlgulasch mit Semmelknödel, ich trank ein Prager Dunkles und Wolf saß daneben wie eine etwas zu kräftig geratene Anstandsdame, ein züchtiges Mineralwasser in der Hand. Ich erklärte ihm ausführlich, warum ich ihn nicht abgeholt hatte, was ihn ein wenig zu besänftigen schien. Ich erzählte ihm, dass ich es inzwischen sogar schaffte, in Mutters Wohnung zu übernachten, und berichtete ihm anschließend, wie aufwendig es sein würde, die sterblichen Überreste meiner Mutter nach Deutschland zu überführen. Schließlich bestellte ich noch ein Dunkles. Das Bier machte mich träge, Rauch und Stimmengemurmel lullten mich ein und gaukelten mir vor, ich hätte den Tag schon geschafft. Zurück in Mutters Wohnung legte ich mich auf den Teppich und ließ mich von der Sonne bescheinen, die kleine Lichtquadrate auf meinen Körper malte. Als Wolf sich eine Stunde später über mich beugte und mir einen arabischen Mokka mit Kardamom reichte, den er mitgebracht hatte, war ich im ersten Moment wie benebelt. Doch der Mokka tat seine Wirkung und wenig später saß ich wieder am Schreibtisch,telefonierte mit einem Catering-Service, der
tiptoptable
hieß und den Lotte Palmstengel mir empfohlen hatte. Der Herr in der Leitung hatte Zeit und Geduld und erklärte mir die Vorzüge eines Büfetts mit gegrillten Pfefferpolenta-Talern und Carpaccio vom Angus-Ochsen auf feinem Treviso-Rucolasalat. Ich sagte: »Ja, ja, das passt schon«, doch als er fortfuhr und mir geeiste Cremeschnitten von der Gansleber auf Nussblattsalat anpries, schritt ich ein und erklärte ihm, dass ich keine Produkte wünschte, die auf Tierquälerei beruhten, und das schließe auch Froschschenkel mit ein. Schließlich einigten wir uns auf
Fingerfood, italienisch
. Dann holte ich mir noch einen Mokka und machte mir Gedanken über die kleine Ansprache, um die ich bei der Trauerfeier wohl nicht herumkäme. Erst gegen fünf fiel mir ein, dass ich den Frankfurter Rechtsanwalt aus Mutters Terminkalender immer noch nicht angerufen hatte.
»Rechtsanwaltskanzlei Reuther, guten Tag!«, schnarrte es zur Begrüßung.
»Grüß Gott, ich … äh … Sternberg hier. Ich hätte gern den Herrn Rechtsanwalt gesprochen.«
»Ach, Frau Sternberg, ich stelle Sie durch … einen Moment bitte.«
Eine Weile lang erklang eine ansprechende Kaufhausmusik, dann meldete sich eine männliche Stimme, jovial, ich schätzte den Mann auf Mitte vierzig: »Frau Sternberg! Was kann ich für Sie tun?«
»Ich … guten Tag, ich heiße Maja Sternberg. Meine Mutter, Lilli Sternberg, war bei Ihnen …«
Jetzt schwieg Rechtsanwalt Reuther und ich fuhr hastig und auch ein wenig unsicher fort: »Meine Mutter ist tot. Ich ordne ihre Angelegenheiten und möchte gerne wissen, in welcher Beziehung Sie zu ihr standen.« Was für eine ungeschickte Eröffnung. Ich war und blieb ein Tölpel in solchen Dingen.
»Wie darf ich das verstehen?« Die Jovialität war jetzt einemdistanzierten Tonfall gewichen. Etwas zögerlich, so als könne er nicht glauben, was ich ihm gesagt hatte, setzte er hinzu: »Mein herzliches Beileid.«
»Ja … danke … Ich habe im Nachlass meiner Mutter kein Adressbuch gefunden, nur ihren Terminkalender, und ich bin dabei, die Trauerfeierlichkeiten zu organisieren. Darum versuche ich, alle, mit denen sie bekannt war, ausfindig zu machen.«
»Und wie kann ich Ihnen dabei helfen?«
»Ich weiß nicht … Ihre Nummer stand, wie gesagt, in ihrem Terminplaner … ich wollte einfach nur wissen, wie Ihre Beziehung zu ihr war … privater oder beruflicher Natur, na ja, wie gut Sie sie kannten …«
»Frau Sternberg hat mich in meiner Eigenschaft als Rechtsanwalt kontaktiert.«
»Aha. Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit?«
»Sie werden verstehen, dass ich Ihnen telefonisch keine Auskunft geben kann. Ich bin … entschuldigen Sie … ehrlich gesagt bestürzt über den plötzlichen Tod Ihrer Mutter. Es ist also doch sehr viel schneller gegangen, als sie annahm.«
»Meine Mutter hat … Selbstmord begangen.«
Ich hörte, wie der Anwalt die Luft scharf einsog. Dann sagte er, und seine
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