Herbstvergessene
meinte ich eine Veränderung in der Lage der Schachtel zu spüren. Doch als ich die Schachtel öffnete, war alles so wie immer und meine Schätze alle an Ort und Stelle: der Stein in ein Stück Stoff geschlagen, das Bild der beiden Liebenden im tiefblauen Sternenmantel, das Paul für mich gemalt hatte, eingeschlagen in Seidenpapier, so wie auch die getrocknete Rose. Als ich die Schachtel wieder zurückschob,war ich sicher, dass ich mich getäuscht hatte. Doch am nächsten Tag kehrte ein seltsames Gefühl zurück, und als ich mich wie gewohnt am Nachmittag aufmachte zur Mahler’schen Wohnung, wurde ich den ganzen Weg über das Gefühl nicht los, dass mir jemand folgte. Doch jedes Mal, wenn ich mich umblickte oder an einer Straßenecke verharrte, waren da nichts als Fremde, die vorübereilten und mich kaum eines Blickes würdigten.
In den Wochen, die nun folgten, blickte ich in alle Spiegel, die meinen Weg säumten, um zu erkennen, wie Paul mich sah, was er in mir sah. Ich schwebte durch die Stadt, über den Schlosshof, die Dominsel und am Pregel entlang, im Unterricht war ich oft abwesend und starrte traumverloren auf die regentropfenbesetzte Scheibe, beobachtete den Wind, wie er das sattgrüne Laub bauschte. Mein Blick versank in azurblauen Sommerhimmeln, und als das Licht schräger wurde, bemerkte ich die ersten Blätter, die darin zu Gold wurden. Ich machte lange Spaziergänge, und jedes Mal, wenn ich ein bekanntes Gesicht auftauchen sah, wechselte ich die Straßenseite, verschwand in einem Hauseingang, betrat ein Geschäft oder sah, den Rücken zur Straße gewandt, in eine Schaufensterauslage.
Wir tauchten hinab in eine dinglose Tiefe, in der es nur uns beide gab, nur Paul und mich, nur unsere Körper und Seelen, die eins wurden. Wir lagen vor dem Kamin, liebten uns, tranken Tee, lasen uns gegenseitig Gedichte vor, oft aus verbotenen Büchern, weil die auf uns eine größere Anziehungskraft ausübten. Unsere Liebe war durchdrungen von Schweigsamkeit und Gesten. Wir sprachen nicht viel, wir lebten diese Wochen wie in einem stillen Rausch. Es sind diese Szenen, die ich vor mir sehe: das Anfangs- und das Schlussritual: Paul, der meine Zöpfe öffnet, vorsichtig und ernst, so feierlich, dass ich ein Kichern nicht ganz unterdrücken kann. Paul, der mein Haar zu zwei Flechten windet, kurz vor dem Abschied. So hat das Haareflechten für mich etwas Trauriges erhalten, etwas, das mit Abschied einhergeht. Wie man beim Duft von Maiglöckchen an einen Tag im Frühling denkt, an dem man einmalsehr glücklich war, wie man auf der Straße, beim Vorübergehen an einem Fenster, beim Klang einer bekannten Weise unmerklich langsamer geht und wieder zu einem Tag zurückkehrt, an dem man vielleicht den ersten Kuss empfangen hat.
Das Haus, in dem wir uns liebten, steht heute nicht mehr. Die Stadt, die ich kannte, gibt es nicht mehr. Im August 1944 wurde Königsberg bei einem Luftangriff zerbombt. Blutrot soll der Himmel über der Stadt gewesen sein und man soll das Krachen der Einschläge bis an die Ostsee gehört haben. Doch das war lange, nachdem ich fortging.
Das Bad in der Mahler’schen Wohnung war riesig und vor seinem Fenster leuchteten die herbstlich gefärbten Linden, als wären sie mit Goldtalern behangen. Es vermittelte uns ein Gefühl heimeliger Geborgenheit, wenn wir uns gegenseitig mit dem eiskalten Wasser abduschten und uns hinterher in die Mahler’schen Handtücher und Decken wickelten. Wir stellten uns vor, wie es wäre, den wuchtigen Kessel zu befeuern, wärmten uns an dem Gedanken an das knisternde Feuer und träumten davon, gemeinsam in der Wanne zu sitzen, bis zum Hals in der dampfenden Wasserwärme, und wie es wäre, unsere Körper unter Wasser zu berühren. Verschlungen wie sich in einer unsichtbaren Strömung wiegende Ranken.
Und eines Tages, als ich aus dem Haus trat und die Straße überquerte, wartete Ingeborg in einem Hauseingang auf mich. Sie sah mich an, schweigend, und dann drehte sie sich um und ging fort und ich blieb stehen und sah ihr nach, wie sie in ihrem blau-weiß getupften Kleid davoneilte, und erst als sie um die Ecke bog und aus meinem Blickfeld verschwand, fing mein Herz an wie verrückt zu schlagen. Was würde mich erwarten, wenn ich nach Hause käme?
Zwei Stunden später begrüßte ich einen säuerlich dreinblickenden Wolf, der zunächst die falsche Straßenbahn erwischt hatte. Als kleine Wiedergutmachung lud ich ihn zum Essen ins
Siebensternbräu
ein, und während
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