Herbstvergessene
nicht wusste, wo ich die Papiere für die Überführung herbekommen sollte und welche Papiere überhaupt notwendig waren. Ich gab den Druck der Trauerkarten in Auftrag.
Es war schon spät am Vormittag, Lotte Palmstengel hatte ihre fliederfarbenen Handschuhe wieder übergestreift und sich verabschiedet, als das Telefon klingelte. Ich stand bereits an der Wohnungstür, in Stiefeln und Mantel, die Klinke in der Hand. Im ersten Moment wollte ich das Klingeln einfach ignorieren, doch dann dachte ich, es könnte Wolf sein, womöglich mit der Nachricht, der Flieger würde verspätet landen. Und so griff ich rasch nach dem Hörer, ein ungeduldiges »Ja, bitte« auf den Lippen.
»Hallo? Guten Tag, hier spricht Ingrid Simon vom Zeitgeschichte-Verlag.«
»Äh … guten Tag.«
»Sind Sie’s, Frau Sternberg?«
»Na ja, gewissermaßen, ja, ich heiße Sternberg, aber Sie wollten sicher meine Mutter sprechen.«
»Frau Lilli Sternberg, ja.«
»Meine Mutter … ist tot.«
Schweigen. Dann ein bestürztes: »Aber … oh … mein herzliches Beileid. Was ist denn geschehen, ich habe hier einen Brief Ihrer Mutter vorliegen, der ist noch nicht einmal zwei Wochen alt. Ein Unfall?«
»Sie … ja, ein Unfall. Hören Sie, ich …« Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass ich dabei war, die nächste U-Bahn zu verpassen. Und damit die S7 zum Flughafen. Und damit Wolfs Ankunft in Schwechat. Aber vielleicht hatte das Flugzeug ja auch Verspätung.
»Mit dem Auto?«
»Nein, sie ist … gestürzt.«
Erneutes Schweigen. Schließlich die vorsichtige Frage: »Dann will ich Sie im Moment nicht weiter belästigen.«
Ich besann mich auf meine gute Erziehung und fragte: »Weshalb wollten Sie meine Mutter denn sprechen. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
»Nun, Ihre Frau Mutter hatte uns freundlicherweise einige Seiten eines Manuskripts überlassen. Es handelt sich dabei um Auszüge aus einem autobiografischen Roman, den Ihre Großmutter geschrieben hat, Sie wissen doch sicher davon …«
»Nein, ich … Sie müssen wissen, meine Mutter und ich, wir hatten nicht viel Kontakt … in letzter Zeit.«
»Dann wissen Sie gar nichts von dem Buch?«
»Nein.«
»Ich wollte Ihre Mutter eigentlich bitten, mir das komplette Manuskript zuzusenden.«
»Oh.«
»Wir würden gerne alles lesen, um zu sehen, ob es in unser Verlagsprogramm passt. Im Moment haben wir rund fünfzig Seiten vorliegen.«
»Aha.«
»Nun, das ist der Grund meines Anrufs …«
»Ja, äh, also … ich weiß davon eben gar nichts. Es ist vielleicht wirklich das Beste, wenn wir in ein paar Wochen noch einmal telefonieren.« Ich notierte mir die Nummer des Verlags, der hier in Wien ansässig war, und drückte die Aus-Taste. Eine Weile lang blieb ich dort stehen, im Gang, bei geöffneter Wohnungstür, in Mantel und Stiefeln, das Telefon immer noch in der Hand. Dann wählte ich Wolfs Nummer, sprach ihm auf die Mobilbox, dass ich ihn leider nicht abholen konnte, zog mich wieder aus und machte mich daran, alle Schränke, Regale, Schubladen zu durchsuchen. Eine Autobiografie von Oma. War denn die Welt komplett verrückt geworden?
Paul und ich hatten gewisse Angewohnheiten, eine davon war, dass wir bei jedem unserer Treffen ein kleines Liebespfand tauschten. Einen Stein, den er gefunden hatte und der aussah wie ein Herz, ein Gedicht, das ich gelesen und für ihn auf einen winzigen Zettel geschrieben hatte, ein herausgeschnittenes Stück von meinem Leibchen. Und eines Tages brachte Paul mir ein kleines Bild. Er hatte es selbst gemalt, es war die kolorierte Bleistiftzeichnung eines Liebespaars, das in einen riesenhaften Mantel, über und über mit Sternen besät, eingehüllt war. Der Mantel umschloss nicht nur die beiden, er ging über in die unendliche Weite des Universums und verschmolz mit ihr. Doch um die Liebenden züngelten Flammen und Dämonen streckten ihre Klauen nach ihnen aus.
Die kleinen Liebesbeweise, die Paul mir gegeben hatte, bewahrte ich in einer türkisfarbenen Blechschachtel auf, die ich zwischen meine Matratze und die Wand geschoben hatte. Wenn ich in den Nächten die Schachtel geöffnet, meine Schätze eine Weile betrachtet, sie in der Hand gehalten, den Stein an mein Herz gedrückt und das Bild bei Kerzenschein betrachtet hatte, tat ich alles wieder zurück und schob die Schachtel ganz tief hinunter, sodass ich sie mit der Hand gerade noch erreichen konnte. Eines Abends jedoch, als ich wie gewohnt danach tastete,
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