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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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plötzlich das Gefühl, dass dieser Mann mir etwas vormachte. Dass er eine Rolle spielte in einem Stück, das ich nicht kannte.

 
    In dieser Nacht wurde ich Mutter. Vom Muttersein hatte ich viel gehört, doch die wirkliche Bedeutung hatte ich zuvor nicht im Entferntesten erahnt. Wie seltsam ist die Veränderung, die wir von einem Moment zum anderen erfahren. Als ich das winzige Körperchen in meinen Armen hielt und auf das ebenso winzige Gesichtchen hinunterblickte, war mit einem Mal alles einfach, einfach und klar umrissen. Mit einer Gewissheit, die ich nie zuvor gespürt hatte, wusste ich, dass ich alles tun würde für diesen kleinen Kerl, den kleinen Paul, der da in meinen Armen lag. Ich würde alle Hindernisse überwinden, ich würde eine Arbeit und ein Zimmer finden. Und irgendwann wäre der Krieg zu Ende und vielleicht gäbe es ja doch ein Wiedersehen.
     
    Wenn ich zurückdenke und mir bewusst mache, dass ich die schlimmste Zeit des Krieges auf einer Insel verbrachte, in einem Schlaraffenland, in dem Milch und Honig bis zum bitteren Ende flossen, in dem es Butter gab und Fleisch, in dem wir keinen Tag hungerten, dann schäme ich mich fast. Hinter diesen Mauern schliefen wir den Dornröschenschlaf, und während in den Städten die Menschen in die Luftschutzkeller flohen und ihre Häuser danach oft nicht mehr wiederfanden, machten wir uns Gedanken über Säuglingspflege und freuten uns, dass es dienstags immer Schokoladenpudding zum Nachtisch gab.
    Mein Leben drehte sich nun ganz um meinen kleinen Sohn. Die Tage waren angefüllt mit Stillen, mit Windelwechseln und Ausfahrten in den Park. Wenn die Frühlingssonne durch die Äste der Bäume schien, dann war ich voller Zuversicht und glaubte ganz fest an ein Wiedersehen mit Paul. Wenn ich den Kinderwagen über dieWege im Park schob, das winzige runde Köpfchen zwischen Kissen und Federbett betrachtend, dann sah ich gleichzeitig uns drei vor mir, Paul und mich mit unserem Sohn, die kleine Familie vereint. Doch mit der Dämmerung kehrten die Dämonen zurück, die Schwärze der Nacht schürte meine Ängste und plötzlich glaubte ich zu wissen, dass Paul längst in einem dieser Lager gelandet war, von denen ich immer mal wieder gehört hatte. Und manchmal standen diese Bilder so klar vor mir, dass ich Licht machte, im Zimmer auf und ab ging und anfing, irgendwelche Gedichte zu rezitieren,
Schillers Glocke
und den
Zauberlehrling.
Ich lauschte dann meinen eigenen Worten, bis die Bilder hinter den Worten zurücktraten und in diesem Moment keine Macht mehr über mich hatten.
     
    Schwangere kamen, Mütter verließen das Heim. Nur wenige blieben, darunter ich und auch Hanna. Ziemlich bald nach meiner Ankunft in Hohehorst hatte ich mitbekommen, dass einige der Angestellten selbst Mütter waren und dass sie dort mit ihren Kindern lebten. In den Anfängen 1938 hatten in Hohehorst um die dreißig Mütter und zwischen vierzig und fünfzig Kinder gewohnt, später dann waren mehr Mütter gekommen, und ich glaube mich zu erinnern, dass es um die sechzig Kinder waren. Da diese gut betreut sein wollten, brauchte man Arbeitskräfte für Küche und Verwaltung, Kreißsaal und Säuglingsstation, Kindergarten und Gebäudeinstandhaltung, zur Bewirtschaftung der Gärtnerei, zur Pflege der Anlagen und zur Instandhaltung aller technischen Bereiche. Und da ich Schreibmaschine schreiben und die Ablage machen konnte, trat ich am 1.   Juni 1944 eine Stelle als Büroangestellte in der Verwaltung von Hohehorst, offiziell »Heim Friesland« genannt, an. Ich war glücklich, dass sich alles so prächtig für mich gefügt hatte: Ich verdiente Geld, für Paulchen war gesorgt und um Wohnung und Verpflegung brauchte ich mich nicht zu kümmern. Einzig die Tatsache, dass ich nun mehr mit Dr.   Sartorius zu tun hatte, behagte mir nicht so sehr.
    Auch Hanna blieb nach der Geburt ihrer Tochter hier. Zu meiner größten Freude bekam sie eine Stelle als Verwaltungshilfskraft.Allerdings wunderte ich mich auch ein wenig darüber, da Hanna doch vorher Schuhe verkauft hatte und so gar nicht für diese nüchterne Arbeit geschaffen schien. Nun, da wir zu den Angestellten gehörten, mussten wir unsere luxuriöse Behausung mit dem Marmorbad aufgeben. Allerdings bekamen wir dafür Einzelzimmer, ich eines in der Mansarde, Hanna wurde ins Nebengebäude umquartiert. Anfangs überraschte es mich, dass sie nicht protestierte, noch nicht einmal mir gegenüber ihre Enttäuschung darüber ausdrückte, das »Schloss«

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