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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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stellen. Und als er zwei Sätze später fragte, ob ich sein Schreiben denn noch nicht erhalten habe, war ich nahe daran zu explodieren. Doch kurz bevor die Zündschnur ganz abbrannte, erkundigte ich mich danach, wohin er den Brief denn gesandt habe. Und als ich nach einigem Hin und Her, Papiergeraschel im Hintergrund und melodischem Beruhigungsgesäuselin der Leitung, die Auskunft erhielt: »na, nach Wien, so wie’s aussieht«, da verpuffte meine Wut wie ein überalterter Kartoffelbovist und ich schämte mich ein bisschen. Ich hatte ihn selbst gebeten, mir nach Wien zu schreiben. Und als ich ihm nun erklärte, dass ich wieder zu Hause in Deutschland sei und in der nächsten Zeit nicht mehr nach Wien käme, und ihn bat, er möge mir telefonisch Auskunft geben, schließlich lägen ihm inzwischen ja die erforderlichen Urkunden vor, da rächte er sich für meinen Auftritt und sagte, es täte ihm leid, aber da könne ja jeder kommen und telefonisch über Mandanten Auskunft verlangen. Dann legte er auf.
     
    Als ich darüber nachgrübelte, wie ich nun am schnellsten nach Wien und an meine Post käme, fiel mir Erna ein. Sie würde mir die Post doch sicher zusenden.
    »Buchholtz«, meldete sich Erna nach dem zweiten Klingeln.
    »Hallo, Erna, äh   … ich bin’s, die Maja Sternberg.«
    »Ach, das Kind, na, das ist schön, dass Sie sich melden bei einer unglücklichen und einsamen Rentnerin. Wie geht’s Ihnen?«, fragte sie munter.
    »Na ja, geht so. Ich schlage mich mit Tapeten aus den Siebzigern herum und mein Freund ist in Tölz.«
    »Hat es denn Streit gegeben?«
    »Nicht mehr als sonst«, antwortete ich betont locker, ich hatte keine Lust auf eine Beziehungsanalyse per Telefon.
    »Wie geht es Ihnen, Erna? Steht das Haus noch?«
    Es war eine kurze Weile still, dann seufzte sie und sagte: »Ich vermisse Ihre Mutter.«
    »Ach, ja.« Was sollte ich darauf sagen?
    »Aber es hilft ja alles nichts. Es ist ein komisches Gefühl, wenn die Leute um einen herum anfangen wegzusterben, noch dazu Leut, die jünger waren, als man selbst ist.«
    Lore Klopstock fiel mir ein. »Wie alt ist eigentlich Frau Klopstock geworden?«
    »65, glaub ich.«
    »Eigentlich noch kein Alter heutzutage.«
    »Das ist es ja, was mich grübeln lässt. Was man so alles falsch macht, ob man sich richtig ernährt und der Likör schmeckt halt auch so gut.«
    Das kam mir bekannt vor, aber ich sagte: »Na ja, sie war aber doch schwer zuckerkrank, die Lore Klopstock. Und das sind Sie ja nicht.«
    »Ich hab mit dem Arzt gesprochen. Ist übrigens derselbe, zu dem ich neuerdings auch geh.«
    »Ah ja? Und was meinte der?«
    »Ein bisschen hat er im Nebel herumgeredet, aber dann hat er schon gemeint, dass ihre Diabetes nicht
so
schlimm gewesen war. Ach, ich weiß auch nicht. Man macht sich halt so seine Gedanken. Wenn man allein ist, so wie ich, wahrscheinlich noch mehr.«
    »Das kenne ich auch.«
    »Aber Sie sind doch nicht allein, Kind!«
    »Im Augenblick schon. Außerdem   …«
    »Außerdem was?«
    »Ach nichts. Hören Sie, Erna, ich hätte da eine Bitte. Könnten Sie mir wohl die Post schicken?«
    »Sie meinen die Sachen, die für Lilli gekommen sind?«
    »Ja. Das auch. Aber da muss auch ein Brief dabei sein, der an mich adressiert ist. Von einem Rechtsanwalt in Frankfurt.«
    »Würd ich gern, aber ich hab ja keinen Schlüssel.«
    »Mist.« Das hatte ich vor meiner Abreise noch tun wollen – Erna einen Satz Schlüssel zu geben. Ich hatte es komplett vergessen.
    »Ich schick Ihnen die Schlüssel gleich heute noch.«
    »Gut. Dann werd ich darauf warten.«
    Eine Pause entstand. Weil ich den Eindruck hatte, dass Erna noch etwas auf dem Herzen lag, fragte ich vorsichtig: »Erna? Gibt’s noch was?«
    »Ach   …« Sie schien mit sich zu ringen, doch dann sagte sie: »Nein, nein   … es ist nichts.«
    »Nun sagen Sie schon!«
    »Ach, Kind. Es ist nichts weiter.«
    Doch auch nachdem ich aufgelegt hatte, wurde ich den Eindruck nicht los, Erna hätte mir etwas Wichtiges sagen wollen.
     
    Noch am selben Tag ließ ich Mutters Postkastenschlüssel nachmachen und brachte das Duplikat zusammen mit dem zweiten Satz Türschlüssel auf die Post. Der Schnee war so schnell geschmolzen, wie er gefallen war, und nun war es vorfrühlingshaft milde. Im Park lugten schon die Spitzen der Schneeglöckchen durch das Laub und ich betrachtete die schwarzen Äste, die vor einem blauen Himmel ihre Zweige emporreckten. Ich atmete tief, es roch nach Feuchtigkeit, und ich dachte daran,

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