Herbstvergessene
verlassen zu müssen. Stattdessen sagte sie nur: »Von hier aus kann man die Pracht wenigstens sehen. Wenn man darin sitzt, bekommt man davon ja kaum was mit.« Wenn ich damals ein wenig aufmerksamer gewesen wäre, hätte ich vielleicht schon früher die Wahrheit erkannt.
Ich weiß nicht mehr, wann ich das erste Mal bemerkte, dass seine Augen einen Moment zu lang auf mir verweilten, auf jeden Fall musste es nach Paulchens Geburt gewesen sein. Das erste unmissverständliche Zeichen seines Interesses erhielt ich jedenfalls acht Wochen nach der Niederkunft, am Tag der Abschlussuntersuchung. Ich stand hinter dem Wandschirm. Dr. Sartorius hatte mir gerade mitgeteilt, dass es um meine Gesundheit bestens bestellt sei und dass ich, so wie ich gebaut sei, noch viele Kinder bekommen könnte und sicherlich auch würde. Seine Worte hatten einen seltsamen Klang, doch während ich in meinen Rock stieg, sagte ich mir, dass diese Äußerung wahrscheinlich rein medizinisch gemeint gewesen war. Ich zog den Reißverschluss meines Rockes hoch, schlüpfte in meine Bluse und war dabei, sie zuzuknöpfen, als ein Geräusch hinter mir mich herumfahren ließ. Dr. Sartorius stand da und sah mich an, ohne ein Wort. Dann lächelte er sanft und sagte: »Sie sind eine schöne Frau.«
Mir stockte der Atem, ich versuchte den letzten Knopf zu schließen, doch meine Bewegungen waren fahrig. Da trat Sartorius zu mir, nahm meine Hände fort und begann, die Knöpfe wieder zu öffnen. Ich war wie erstarrt. Sein Gesicht war jetzt ganz dicht über mir, ich konnte seinen Atem auf meiner Wange, auf meiner Nasespüren, bemerkte den leichten Pfefferminzgeruch, der darin lag. Als hätte er alle Zeit der Welt, öffnete er die Knöpfe, einen nach dem anderen, und schob seine Hand in die Bluse. Seine Berührung ließ mich mit einem Ruck aus meiner Erstarrung erwachen. Ich stieß ihn von mir, er taumelte, tat einen Schritt rückwärts, doch noch ehe er etwas sagen oder tun konnte, war ich schon durch die Tür auf dem Korridor. Ich rannte den Gang entlang zu meinem Zimmer, riss die Tür auf, schloss hinter mir ab und blieb dort stehen, mit dem Rücken an der Tür und mit wild schlagendem Herzen.
Ich wandte meinen Blick ab von Sartorius, wie er dasaß und die Karte las, mit einem Stirnrunzeln, als würde er die Worte darauf nur schwer begreifen. Das alles ist absurd, dachte ich und fühlte mich plötzlich wie in einem Avantgarde-Film, bei dem die Zuschauer und manchmal vielleicht sogar der Regisseur selbst nicht wissen, in welche Richtung es weitergehen soll. Aber ich steckte mittendrin in diesem Film, der mein Leben war, und musste irgendwie weiterspielen. Und neben mir saß dieser Mann, Roman Sartorius, in dessen Gedanken ich zu gern gelesen hätte.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte er in unser Schweigen hinein und auf einmal fiel mir ein weiteres loses Ende ein, das ich noch nicht verfolgt hatte: der Frankfurter Rechtsanwalt, von dem ich immer noch keine Antwort erhalten hatte. Sartorius musste mir meinen Unmut angesehen haben, denn er fragte: »Alles in Ordnung?« Ich zuckte die Schultern, wie um den Ärger über den Anwalt zu verscheuchen, und meinte stattdessen: »Ach, egal. Keine Ahnung, was ich jetzt tun werde. Vielleicht schaue ich mir einmal den Ort an, in dem Oma gewesen ist, dieses Hohehorst.«
»Was hoffen Sie dort zu finden?«
»Es klingt vielleicht versponnen, aber ich will einfach spüren, wie es da ist – vielleicht komme ich ihr ja dadurch näher.« Ich seufzte, aus seinem Blick sprach Skepsis. »Kann gut sein, dass Sie das esoterisch finden. Aber ich habe einfach das Gefühl, ich müsste allen Spuren nachgehen bis zum Ende. Es sind ja nicht viele.«
Ich betrachtete ihn. Er war aufgestanden, die Karte in Händenwie einen kostbaren Schatz. Es schien, als wolle er sie gar nicht mehr loslassen. Der Eindruck, er spiele mir etwas vor, war vergangen und ich musste unwillkürlich lächeln. Waren wir nicht wie zwei Gestrandete, überrollt von den Wogen der Vergangenheit? Zwei völlig Fremde, deren Wege sich gekreuzt hatten wegen etwas, das über sechzig Jahre zurücklag. Und doch war es nicht abgeschlossen, wir hatten beide mit einem unfertigen Ende, mit einem Abschied zu kämpfen, der ohne Worte geblieben war.
Irgendwann sagte Sartorius: »Sie sind sehr hartnäckig. Das sieht man Ihnen gar nicht an.«
»Weil ich einen Minirock und wirres Haar habe?«
Er lachte. »Nein.«
Ich wechselte das Thema. »Und Sie waren auf einem
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