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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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alles erzählen?
    »Jetzt haben Sie tatsächlich eine sehr schwierige Frage herausgezerrt.« Ich trank mein Wasser leer und stellte das Glas mit einem lauten Knall aufs Tablett. »Verdammt, ich würde meine Seele verkaufen für eine Zigarette!« Ich lachte verkrampft.
    Er ging nicht darauf ein, sondern saß einfach nur da und sah mich an. Und plötzlich kam es mir vor, als hätte mich noch nie zuvor jemand richtig angesehen, und auf einmal spürte ich meinen Körper, mein Herz, das klopfte, meine Brust, die sich beim Atmen hob und senkte, meinen Magen, der sich wie verschlossen anfühlte, als könnte ich nie wieder einen Bissen herunterbekommen. Und dann hörte ich seine Stimme, sehr sanft und wie von weit her: »Was ist es, das Sie wirklich bewegt?«
    Seine Worte schienen im Raum zu schweben und plötzlich brach es aus mir heraus: »Ich glaube nicht, dass meine Mutter Selbstmord begangen hat. Ich glaube es einfach nicht.«
    »Was glauben Sie dann? Dass es ein Unfall war?«
    Ich legte die Mustermappe, an der ich mich festgeklammert hatte, beiseite, richtete mich auf, holte tief Luft und sagte: »Ich glaube, dass jemand sie getötet hat.«
    Jetzt war es ausgesprochen, und in dem Augenblick, als ich mich selbst diesen Satz sagen hörte und meine Stimme wie von fern her klang, wusste ich, dass es genau so gewesen war, mit einer Sicherheit, die mir unheimlich vorkam, unheimlich und beinahe übersinnlich. Plötzlich beobachtete ich ihn sehr genau, suchte in seinem Gesicht nach Skepsis, nach Unglauben, nach Belustigung, nach Überheblichkeit und fand doch nur Aufmerksamkeit und eine Spur Sorge.
    »Haben Sie darüber mit der Polizei gesprochen?«
    »Ich habe mit der Polizei gesprochen. Die haben den Fall als Selbstmord zu den Akten gelegt.«
    »Und was haben Sie nun vor?«
    »Ich   … ach, ich weiß es doch selbst nicht, ich suche, ich greife nach jedem Strohhalm, den ich kriegen kann, und frage mich ständig, was mich in Wirklichkeit antreibt. Vielleicht steht hinter allem nur das Schuldgefühl einer Tochter, die versagt hat.«
    »Warum gehen Sie mit sich selbst so hart ins Gericht? Wir alle versagen im Leben, ständig, im Großen wie im Kleinen, und müssen trotzdem weitermachen. Warum lassen Sie den Gedanken nicht einfach zu?«
    »Sie meinen, ich soll vor mir selbst zugeben, dass ich versagt habe?« Ich hörte selbst, wie schrill meine Stimme klang. Sartorius sagte schlicht: »Ja.«
    Ich schluckte und kämpfte die Tränen zurück. Doch es war vergeblich, ich spürte schon, wie es auf meinen Wangen kitzelte, wie sie feucht wurden und wie immer neue Tränen nachkamen und ich nicht mehr aufhören konnte zu weinen.
    »Maja«, sagte er, und noch einmal: »Maja.« Und so, wie er es sagte, klang das Wort fremd in meinen Ohren. Ich hörte, wie er zu mir herüberkam, sich neben mich setzte und seine Arme um mich legte. Ich wollte aufstehen, mich abwenden, irgendwie entkommen. Doch das konnte ich nicht. Plötzlich spürte ich, wie er ganz sanft mit einer Serviette mein Gesicht abtupfte. Einen Moment lang verschwand alles andere und ich wünschte mir nur noch, seine Hände auf meinem Körper zu spüren.
    Doch ich rief mich zur Ordnung und der Moment verging. Ich war wieder Maja Sternberg, die verzweifelt versuchte, ihr Leben in den Griff zu kriegen, und gerade dabei war, vor einem Fremden einen Seelenstriptease hinzulegen. Die mit verheultem Gesicht in den Armen eines unglaublich attraktiven Mannes in ihrem chaotischen Wohnzimmer saß und unkontrolliert flennte. Ich zog die Nase hoch, löste mich schniefend aus der Umarmung und stürzte nach draußen, angeblich um Taschentücher zu suchen.
    Im Bad spritzte ich mir Wasser ins Gesicht, betrachtete mich im Spiegel, sah den verschmierten schwarzen Kajal, die verquollenen Lider und die rote Nase. Ein elektrisierender Anblick, dachte ich, rupfte ein paar Kleenex-Tücher aus dem Kasten und schnaubte kräftig. Dann schminkte ich mich komplett ab und dann komplett neu.
    Sartorius stand am Fenster, mit dem Rücken zu mir, als ich ins Wohnzimmer zurückkam. Er drehte sich langsam um und ich wich seinem Blick aus. Gefasst und betont nüchtern sagte ich: »Sie sind gekommen, um die Karte zu sehen.« Er nickte. Ich hielt den Blick auf einen Punkt unter seiner rechten Schulter gerichtet, deutete auf den Karton mit der Post, der immer noch auf dem Wohnzimmertisch stand. Tat ein paar Schritte darauf zu und reichte ihm die Karte. Ich beobachtete ihn, während er sie aufmerksam studierte. Und hatte

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