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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Brief, mit dessen Absender ich nicht gleich etwas anfangen konnte. Ich riss den Umschlag auf. Es war der Antwortbrief der Autorin, die das Buch über Hohehorst geschrieben hatte. Sie teilte mir mit, dass eine Frau Willunat, die in der Nähe von Bremen in einem Altersheim lebte, bereit war, mit mir über ihre Zeit in Hohehorst zu sprechen. Offenbar war diese Frau genau zeitgleich mit Oma Charlotte dort gewesen.
     
    Eine knappe Woche später – das Problem mit John und der Tapete war gelöst, der Mann aus dem Park war mir nicht wieder begegnet und zwischen Wolf und mir herrschte Funkstille – war das Schreiben des Frankfurter Anwalts immer noch nicht gekommen. Bei einem Telefonat mit Erna erfuhr ich, dass sie die Schlüssel erst an diesem Morgen erhalten hatte, den Brief des Anwalts für mich aber bereits zur Post gebracht hatte. Ich bedankte mich bei Erna, und während ich den Hörer noch in der Hand hielt, spürte ich auf einmal die schier übermächtige Gewissheit, dass mit dem Brief eine schreckliche Wahrheit auf mich zukäme. Doch statt herumzusitzen und darauf zu warten, machte ich mich auf, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Ich fuhr nach Hohehorst und würde auch die alte Dame, Frau Willunat, treffen, die ganz in der Nähe lebte. Mit Anneliese Willunat hatte ich, kurz nachdem ich das Schreiben erhalten hatte, telefonisch Kontakt aufgenommen. Sie warfreundlich und entgegenkommend gewesen und sagte, außer der üblichen Mätzchen, die man in ihrem Alter nun mal so hatte, gehe es ihr gut und sie freue sich auf unser Gespräch.
    Das Licht war grau an diesem Tag und der Wind jagte Wolkentiere über den Himmel. Obwohl der Herbst längst vorüber war, wehte Laub über die Fahrbahn und machte den Sturm sichtbar. Es war ein Orkan angesagt worden, doch meine Unruhe war so groß, dass ich die Warnung ignoriert hatte und trotzdem losgefahren war. Ich vertraute ganz einfach darauf, dass nichts geschehen würde. Auf der Hälfte der Strecke merkte ich, dass mein Handy, das ich zum Aufladen noch an die Steckdose in der Küche angeschlossen hatte, liegen geblieben war. Doch der Ärger über meine Schusseligkeit verflog rasch bei dem Gedanken, dass Wolf vielleicht anrufen würde und dass das verdammte Handy dann ausgeschaltet wäre! Sollte er es ruhig versuchen und sich fragen, wo ich war! Mehrmals während der Fahrt dachte ich daran, dass eine Aussprache inzwischen dringend angebracht wäre. Aber dazu müsste Wolf sich erst mal meiner geografischen Lage annähern. Ich würde ihm jedenfalls nicht nach Tölz hinterherfahren, so viel war gewiss.
    Schließlich geriet ich in einen Zustand eigentümlicher Losgelöstheit wie oft auf langen Autofahrten. Das einzige Bild, das ich in den vergangenen Stunden gesehen hatte, war das graue Band der Straße, das scheinbar endlos vor mir lag. Ich fiel in eine Art Trance, in der es nur noch das gleichmäßige Motorengeräusch, die vorbeihuschende Landschaft und die anderen Fahrzeuge gab.
    Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Die Landschaft hier war ganz Felder und Wiesen, alte Eichen, die ihre welligen Arme in die Luft reckten, vereinzelte Gehöfte, Backstein und Fachwerk, hin und wieder die geschnitzten Pferdeköpfe der Niedersachsenhäuser. Es hatte geregnet in den letzten Tagen und auf den Wiesen hatten sich unzählige kleine Teiche gebildet, die einem die Illusion einer Marschlandschaft gaben.Mein Herz schlug jetzt schneller. Da war es. Ein Schild, auf dem Hohehorst stand und darunter
Hauptstraße 1
. Ich war ein wenig zu weit gefahren, wendete bei der nächsten Möglichkeit und blieb dann vor den beiden Pförtnerhäuschen stehen. Beklemmung stieg in mir auf, das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, und eine Scheu, entdeckt zu werden. Der Januarwind war zum Sturm geworden und wehte braunes Buchenlaub über den gepflasterten Vorplatz. Der ideale Ort, um etwas zu verstecken, schoss es mir durch den Kopf, und mein Unbehagen wuchs. Ich ließ den Blick über die beiden Pförtnerhäuschen schweben. Im einen hatte, so wusste ich, zu Lebensborn-Zeiten der Verwalter des Heims mit seiner Familie, im anderen eine Sekretärin gewohnt. Die schiefergrauen Dächer glänzten im Nieselregen, die sandsteinbraunen Säulen, an jedem Gebäude sechs, waren feucht und fleckig, und die Lampen auf Mauer und Pfosten wirkten wie heimtückische Kronen. Dahinter erstreckte sich der Park, die Allee, grau und abweisend, und ich wäre am liebsten umgekehrt und wieder zurückgefahren, zurück nach Hause. In dem

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