Herbstvergessene
Wöchnerinnenstation waren untersagt.
Nach dem Frühstück gingen wir in die Büros, ich bereitwillig, Hanna widerwillig, und wann immer ich etwas Zeit erübrigen konnte, stahl ich mich davon, um Paulchen auf den Arm zu nehmen, denn die ganz Kleinen schliefen ja im Säuglingssaal und nicht bei ihren Müttern. Als es richtig sommerlich zu werden begann, setzten wir uns auf die Terrasse oder im Rosengarten auf eine Bank. Doch die Erinnerung an jene merkwürdig sorglose Zeit ist verblasst wie eine alte Fotografie, die über viele Jahre dem Sonnenlicht ausgesetzt war.
Hohehorst war das Paradestück des Lebensborn. Und dochbekam ich mit der Zeit mit, dass dort nicht alles nach den Vorstellungen des Vereins funktionierte. So erfuhr ich durch die Korrespondenz mit der Lebensbornzentrale in München, dass der Vorstand unzufrieden war mit dem Stand der weltanschaulichen Schulungen in Hohehorst. Es gab zwar Kurse in Säuglingspflege, auch Vorträge in Sachen Haushalt und Kinder. Und hin und wieder stand gemeinsames Radiohören auf dem Programm, eine Rede des Führers oder des Reichspropagandaministers zum Beispiel. Ein paar Liederabende wurden abgehalten, an denen wir alte Volkslieder sangen, und einmal kam der Kreisgruppenluftschutzleiter ins Haus, um für uns Angestellte einen Luftschutzkurs abzuhalten.
Doch dieses Programm genügte dem Vorstand nicht. Und mit der Zeit erfuhr ich auch, warum nicht alles so lief wie in anderen Heimen, wo die Erziehung im weltanschaulichen und politischen Bereich planmäßig durchgeführt wurde. Denn eigentlich wurden all diese Schulungen vom hauptamtlichen Leiter des Heims durchgefüht. Doch in Hohehorst gab es keinen ständigen Heimleiter.
Seit der Eröffnung im Mai 38 war es dem Verein nicht gelungen, jemand Geeigneten zu finden, der das Heim in allen Angelegenheiten führte. Wie ich durch meine Arbeit im Büro nach und nach mitbekam, wurde diese Position in den übrigen Heimen mit einem S S-Arzt besetzt, der nicht nur die medizinische Betreuung der Pensionärinnen übernahm, sondern auch im Heim lebte. Nur dieser Arzt hatte Zugang zu den geheimen Akten der Lebensborn-Zentrale, er verfügte also als Einziger über die Kerninformationen und kannte als Einziger ihren Hintergrund. Und eben auch die Organisation der Schulungen fiel in seinen Verantwortungsbereich. Dr. Sartorius nahm einen Großteil dieser Aufgaben wahr und hatte wie die anderen leitenden Ärzte Zugang zu den Akten. Der entscheidende Unterschied war, dass er nicht im Heim lebte und wegen seiner Praxis in Bremen nur tageweise hier anwesend war. Auch munkelte man, dass er irgendwie an einem Forschungsprojekt beteiligt sei, doch was genau er neben seiner Tätigkeit in Hohehorst machte, sollte ich erst später erfahren.
Ich weiß nicht mehr, wann Hanna begann, sich nach Paulchens Vater zu erkundigen. Genau erinnere ich mich jedoch an das Gespräch, das wir an einem Tag Ende September oder Anfang Oktober führten. Wir hatten Mittagspause und schoben unsere Kinderwägen, die wie überdimensionale weiße Körbe aussahen, durch den Rosengarten. Der Tag war warm und golden und in den Spitzen der Bäume hatte sich schon der Herbst verfangen. Die Rosen zeigten noch späte Blüten und außer dem Summen von Bienen und dem Knirschen unserer Räder im Kies störte kein Laut die Mittagsruhe. Wir setzten uns auf die übliche Bank, die in einer Nische am Rand des Rosenbeets stand, die Kleinen hielten ihr Mittagsschläfchen und ich hätte diesen Moment in seiner stillen Wärme am liebsten für die Ewigkeit konserviert.
Ich klappte Paulchens Plumeau zur Seite und richtete den Wagen so aus, dass sein Gesicht im Schatten lag, Beine und Körper aber von der Sonne beschienen wurden. Ich streichelte seinen Rücken, als Hanna unvermutet fragte: »Was wirst du tun, ich meine, nach dem Krieg?«
Ich musste sie überrascht angesehen haben, denn sie fügte erklärend hinzu: »Na ja, du wirst kaum dein Leben in einem Heim verbringen wollen. So schön’s hier auch ist.«
Ich betrachtete die Rosen, die umhertaumelnden Bienen, das Licht, das sich in den orangeroten Blättern des Ahornbaums verfing, und überlegte. Nach einer Weile sagte ich: »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Was dann sein wird … und überhaupt, nach dem Krieg.«
»Willst du nicht in deine Heimat zurückkehren, hast du denn gar kein Heimweh?«
»Heimweh?« Doch, natürlich hatte ich Heimweh, auf eine sehr verschwommene Art. Ich dachte an Paul, an das Mahler’sche
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