Herbstvergessene
umfunktioniert, es folgten Jahre im Besitz des Roten Kreuzes und als Alterskrankenhaus. 1981 schließlich ging das Anwesen an die Stadt Bremen, die dort ein Therapiezentrum für Drogenabhängige einrichtete.
Dieses Haus hatte alle erdenklichen Extreme erlebt, ein Auf und Ab zwischen dem schwindelerregenden Reichtum der Lahusens und den Existenznöten von schwangeren Müttern, denen man einredete, sie gehörten zur »rassischen Elite« eines Volkes. Das Haus hatte Sieger und Besiegte gekannt, Gewinner und Verlierer. Und nun lebten dort Menschen, die versuchten, sich zu einer für sie neuen Normalität hinzubewegen.
All das ging mir durch den Kopf, als ich vor dem Haus stand und den Blick über die Fassade, die Fenster, die grauen Mauern schweifen ließ. Und dann dachte ich wieder an Großmutter. Die in einem dieser Zimmer gelebt hatte, die an diesem Ort ein Kind geboren hatte. Was war hier geschehen? Und wo – verdammt noch mal – war dieses Manuskript?
An das Gespräch mit Hanna sollte ich mich erst zwei Wochen später erinnern. Es war am Tag von Paulchens Namensweihe. Ich war gerade dabei, in der großen Halle die letzten Vorkehrungen zu treffen.
Die Namensgebungsfeiern waren für Lebensborn-Mütter das, was für andere die Taufe war. Diese Feiern wurden im festlichen Rahmen begangen, wobei mehrere Kinder gleichzeitig die Namensweihe erhielten. Das Besondere für uns war, dass dazu auch Gäste von außerhalb geladen wurden. Ich selbst hatte die Einladungsliste geschrieben und die Briefe verschickt. Es wurden an die dreißig Gäste aus Bremen und Umgebung erwartet, hochrangige Mitglieder der SS und auch die Vorstandsmitglieder des Lebensborn würden diesmal kommen. Ein Mann, der bei uns als Hilfskraft arbeitete, und ich waren gerade dabei, die Führerbüste, die zu derlei Gelegenheiten hervorgeholt wurde, mit einem Handwagen in die Halle zu rollen. Fahnen und Blumengestecke, Sträuße und das Bild von Hitlers Mutter standen schon an Ort und Stelle. Zwei der Mütter stellten die Stühle in säuberlichen Reihen auf. Wir waren ein wenig spät dran, da ich kurz zuvor noch die Bibliothek für die Vorstandssitzung hatte herrichten müssen, um die sich eigentlich Hanna hätte kümmern sollen, doch die hatte sich kurzfristig krankgemeldet. Sie litt, wie öfter in letzter Zeit, unter einem Migräneanfall.
Ich war also an diesem Morgen ziemlich beschäftigt, eilte hierhin und dorthin und machte mich, als alles an Ort und Stelle war, auf, um noch rasch nach Hanna zu sehen, deren Kindchen ja auch die Namensweihe erfahren sollte an jenem Tag.
Es war ein nasskalter und windiger Oktobertag und ich zog mirdie Strickjacke enger um den Leib und hielt den Schirm wie ein Schutzschild gegen den Wind, während ich über den Vorplatz zum Nebengebäude lief. Blätter wirbelten um mich herum, in einem irren Tanz, und ich dachte mit leisem Bedauern daran, dass ich heute nicht würde spazieren gehen können. Der Herbst hatte seinen Höhepunkt erreicht, in der Luft lag jener würzige Duft aus Erde und welkem Laub, der einen tief einatmen lässt, in dem Wunsch, mit dem Duft auch die Farben in sich aufzunehmen.
Das Nebengebäude schien verlassen, alle gingen irgendeiner Tätigkeit nach, und als ich die Eingangstür aufdrückte, umfing mich eine Stille, die wie aus Watte war. Ich stieg die Stufen hinauf und schlug den Weg nach rechts ein, den Korridor entlang. Hannas Zimmer war das letzte am Ende des Ganges. Als ich schon fast ihre Zimmertür erreicht hatte, hörte ich es. Eine Stimme, ganz leise, seltsam klagend, die aus dem Raum drang. Ich blieb auf dem Absatz stehen und lauschte: Ja, es gab keinen Zweifel, das war ein Wimmern. Ich legte die Hand auf die Klinke, als ein zweiter, anderer Ton sich dazugesellte, ein Quietschen, das rhythmischer wurde, schneller. Und dann hörte ich die Stimme eines Mannes, der stöhnte, ein tiefes Aufstöhnen, das in einen unterdrückten Schrei mündete. Ich weiß noch, wie ich dastand, die Hand immer noch halb erhoben, um die Klinke herunterzudrücken. Das Wimmern der Frau wurde lauter und steigerte sich und wurde ebenfalls zu einem Stöhnen, zu Hannas Stöhnen. Ich ließ die Hand sinken, machte auf dem Absatz kehrt und schlich davon, mit einem dicken Kloß im Hals und mit brennenden Wangen.
Kurz vor Beginn der Namensweihe hatte Hanna sich wie von Zauberhand »erholt«. Sie sah gut aus, ihre Wangen waren rosig, die Augen blauer und strahlender denn je und ihre Haare umrahmten in duftigen Wellen
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