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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ihr Gesicht. Sie hatte »danach« wohl noch die Zeit gefunden, sich die Haare zu machen. Plötzlich blitzte eine Erinnerung auf, an jenen Tag im Park, als ich Hannas roten Mantel durch das Geäst hatte leuchten sehen. Und als mir kurz darauf bewusst wurde, dass Hanna sich schon damals davongestohlenhatte, um sich mit einem Mann zu treffen, spürte ich eine Welle der Enttäuschung heranrollen, die mir einen Moment lang fast den Atem verschlug.
    Die große Halle war erfüllt von Stimmengewirr. Hanna und ich und die anderen beiden Mütter, deren Kinder heute die Namensweihe empfangen sollten, nahmen in der ersten Reihe Platz, auf dem Schoß die Kleinen, im Sonntagsstaat. Ich drehte mich um und ließ langsam den Blick durch die Reihen wandern. Über die Pensionärinnen und meine Kollegen, die Herren des Vorstands und die S S-Leute , die gekommen waren, um – wie es Usus war – die Patenschaft für die Kinder zu übernehmen. Immer wieder tastete ich die Gesichter dieser Männer ab. Ob einer von ihnen früher gekommen war und einen Abstecher ins Nebengebäude gemacht hatte, heute kurz vor dem Mittagessen? So wie ich selbst hatte auch Hanna nie viel vom Vater ihres Kindes gesprochen, und was sie erzählt hatte – daran dachte ich nun   –, war vage und nichtssagend gewesen. In der dritten Reihe blieb mein Blick an einem S S-Mann hängen, der neben einer Frau saß, ganz offensichtlich seiner Ehefrau. Kurz zuvor hatte ich ihn mit Hanna vor dem Kamin stehen sehen und er würde, soweit ich wusste, die Patenschaft für Hannas Kind übernehmen. Es war ein gut aussehender Mann um die fünfzig, mit angegrauten Schläfen und einem gewinnenden Lächeln. Er war groß, schlank und machte einen äußerst feschen Eindruck in seiner Uniform. War es möglich, dass
er
bei Hanna gewesen war?

 
    Der Wind zerzauste mir das Haar, während ich dort stand und die dunklen Fenster anstarrte. Irgendwann setzte ich mich in Bewegung und betrat das Haus. Ich hörte Bässe im Discotakt, einen stampfenden Rhythmus, der mich eigenartig berührte, in gewisser Weise aber auch erleichterte hier an diesem Ort, der mir von draußen so ganz herausgelöst aus dieser Zeit und dieser Welt erschienen war. Im Eingangsbereich blieb ich wieder stehen und sah geradeaus durch eine weitere Glastür, die nur ein paar Stufen höher lag, in eine große Halle. Links und rechts gingen Türen ab, an der linken stand ein Schild:
Anmeldung
. Doch schon bevor ich die Klinke herunterdrückte, wusste ich, dass die Tür verschlossen sein würde. Offensichtlich war ich zur falschen Zeit gekommen. Durch das Glas sah ich, dass ein paar junge Leute zu mir herübersahen. Mir wurde unbehaglich zumute. Das waren vermutlich die Exjunkies, die hier therapiert wurden. Auf keinen Fall wollte ich als neugieriger und sensationslüsterner Eindringling dastehen. Andererseits würde mich vornehme Zurückhaltung nicht weiterbringen. Also atmete ich tief durch und öffnete die Tür.
    Alle Blicke richteten sich auf mich. Im Raum befanden sich etwa dreißig junge Leute, die meisten Männer, ein paar wenige Mädchen waren auch dabei. Einige von ihnen saßen auf schwarzen Ledersofas, die über den Raum verteilt waren, und starrten vor sich hin oder drückten auf einem Handy herum. Ein paar andere spielten Billard. Oder sie hatten gespielt, bevor ich eingetreten war. Jetzt standen sie nur da, das Queue in der Hand, und warteten. Ich wandte mich an einen nicht mehr ganz so jungen Mann und rief quer durch den Raum gegendas Stampfen der Bässe an: »Ich interessiere mich für die Geschichte des Hauses und würde mir den Ort gern einmal ansehen. Geht das?«
    Er nickte und ich hatte den Eindruck, dass die Anspannung, die mein Erscheinen hervorgerufen hatte, einer gelösten Neugier wich. Der ältere Mann ging zu einem jüngeren und redete kurz mit ihm, woraufhin der junge auf mich zukam.
    »Hi! Ich würde mir gerne einmal das Haus ansehen.«
    Der junge Mann betrachtete mich fragend und ich hatte den Eindruck, noch etwas hinzufügen zu müssen.
    »Ich   … meine Mutter ist hier auf die Welt gekommen   … 1944.«
    »Ich weiß nicht recht   …«
    »Ich bin extra von Süddeutschland hierhergefahren.«
    Der junge Mann schien mit sich und einer Entscheidung zu ringen. Schließlich sagte er, ein wenig unsicher noch: »Warum nicht! Ich werde Sie herumführen. Wollen Sie auch den Park sehen?«
    Ich nickte erleichtert und wir setzten uns in Bewegung. Der junge Mann, ein dunkler Typ mit schwarzen Samtaugen,

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