Herbstvergessene
Wohnzimmer. Und an Mutter. Laut sagte ich: »Dazu bräuchte ich vermutlich erst einmal ein Zuhause.«
»Hast du denn keines, was ist mit Königsberg?«
»Du weißt doch, dass ich dort einen Stiefvater habe, der mich totschlagen würde, wenn ich mit einem Kind ankäme.«
»Und was ist mit deiner Mutter?«
»Natürlich würde ich sie gerne wiedersehen. Aber das ist alles so kompliziert.«
»Und … äh … Paulchens Vater, was ist eigentlich mit dem, du hast nie von ihm gesprochen.«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie … du weißt nicht, was mit ihm ist? Ist er im Krieg?«
Ich schwieg. Bisher hatte ich meine Geschichte noch niemandem erzählt. Keiner wusste, dass ich ein Kind vom Mann meiner Schwester hatte, dass dieser Mann jüdisches Blut in den Adern hatte, dass ich als Kindsvater den Mann meiner anderen Schwester angegeben hatte.
»So ähnlich … Aber außerdem ist er verheiratet.«
»Da bist du ja in guter Gesellschaft hier und nicht die Einzige. Aber es könnte ja sein, dass er sich scheiden lässt.«
»Dazu müsste er erst mal … äh … zurückkommen.«
»Also wird er vermisst?«
Ich schwieg. Plötzlich brach es aus mir heraus: »Warum musst du von alledem anfangen … Ich …«
Ich beugte mich vor, legte die Hände vors Gesicht. Es war alles so aussichtslos, so verzwickt und auch – und vor allem – so verlogen. In diesem Moment wünschte ich, mich jemandem mitteilen zu können, endlich jemandem die ganze Wahrheit zu sagen. Ich rieb mir mit den Händen über die Stirn. Ich war die ganze Heimlichtuerei so unendlich leid! Aber sollte, durfte ich es wagen, Hanna meine Geschichte zu erzählen? Immerhin war ich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hier ins Heim gelangt. Und Hanna war zwar meine Freundin, aber auch überzeugt davon, dass der Führer schon alles richtig machte für Deutschland. Ich richtete mich wieder auf, lehnte mich zurück und sagte schließlich: »Ich … das ganze Reden deprimiert mich.«
Ich spürte ihren Blick von der Seite auf mir und wandte den Kopf, um sie anzusehen. War es Interesse an meiner Person oder Neugierde, die aus ihren Augen sprach? Oder lag in ihrem Blick noch etwas anderes, Forschendes, Misstrauisches? Ich spürte, wieich errötete, und in dem Moment begann Paulchen sich zu regen, wie ein kleiner Käfer in der Sonne bewegte er die Beinchen und begann zu ächzen und schließlich zu quengeln. Erleichtert über die Unterbrechung nahm ich ihn hoch, wiegte ihn sanft hin und her und betrachtete ihn, wie die Sonne sich in seinem dunklen Haar verfing und ihm einen fast kastanienroten Schimmer verlieh.
Der seltsame Ausdruck in Hannas Augen war verschwunden. Sie lächelte und streichelte über Paulchens Haar. »Er ist so ein hübscher Kerl. Sicher tröstet er dich ein wenig, ich meine, nach dir kommt er ja nicht.«
»Ja … er ist seinem Vater sehr ähnlich. Das Haar und seine Augen … wie schwarzer Samt«, flüsterte ich und drückte die Tränen zurück. Ich küsste ihn auf sein daunenweiches Köpfchen und fragte mich, ob er seinen Vater je kennenlernen würde, dieser kleine Junge.
Auf dem Rückweg von der Post war ich mir schon nicht mehr so sicher, ob meine überreizte Fantasie mir nicht vielleicht einen Streich gespielt hatte. Warum hätte dieser Mann mich verfolgen sollen? Trotzdem versuchte ich verzweifelt, Wolf zu erreichen. Ich probierte es zweimal, und sein Handy war auch an, aber niemand hob ab. Erst beim dritten Mal meldete er sich. Im Hintergrund hörte man jemanden sprechen. Eine Frau.
»Hallo.« Er klang nüchtern, gar nicht erfreut, mich zu hören. Wie ein genervter Beamter, den man beim Büroschlaf störte. Sofort bereute ich, ihn angerufen zu haben.
»Stör ich gerade?«
»Nein, nein …«
»Du klingst … sauer.«
»Das täuscht.« Die Frauenstimme im Hintergrund lachte nun. Wer war das?
»Soll ich später noch mal anrufen?«
»Nein, nein, das passt schon.«
Wenn ich einen Spruch hasste, dann war es
Das passt schon
. Und Wolf wusste das auch. Er war also immer noch sauer auf mich und ich sollte das auch spüren.
»Was macht die Arbeit?«, fragte er jetzt. Es klang desinteressiert.
»Läuft gut.«
»Und deine Orgel?«
»Wir sind dran.«
»Wir?«
»Na ja, Biene und ich.«
Wumm. Das durfte doch nicht wahr sein.
»Ich wusste nicht, dass
Biene
auch in Tölz ist.« Ich sprach den Namen aus, als handelte es sich um eine ansteckende Krankheit. Gleich hinter Pest und Lepra.
»Habe ich dir das nicht
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