Herbstvergessene
Moment glaubte ich eine Bewegung, einen Schatten hinter einem der Fenster des rechten Pförtnerhäuschens wahrzunehmen und wollte schon aussteigen und um Erlaubnis bitten, das Grundstück zu betreten. Manchmal spüre ich etwas, was ich als »mein deutsches Erbe« bezeichne – einen bizarren Drang, alles »richtig« und »ordentlich« zu machen. Als die Gestalt am Fenster verschwand, besann ich mich und gab Gas. Die Überwindung der deutschen Gene, einfach so. Und so fuhr ich auf das Grundstück, durch die Allee, die bereits jetzt im diffusen Nachmittagslicht von Laternen erhellt wurde. Ein milchiges, verlorenes Licht fiel auf den breiten Zufahrtsweg. Linkerhand wuchsen Türme aus Rhododendren, die mir wie Urgestein vorkamen. Ich überlegte, ob wohl Georg Carl Lahusen, der Erbauer des Hauses, die Büsche schon 1929 hatte pflanzen lassen. Nun fuhr ich auf ein Rondell zu, das den Vorplatz des Anwesens bildete. Das Haupthaus war prunkvoll und beeindruckendmit seinen über fünfzig Metern Länge. Es wirkte unberührt von all den Geschehnissen, dessen Zeuge es gewesen war, und hatte nichts von seiner Schönheit verloren. Und plötzlich sah ich eine junge Frau vor mir, groß und blond und schön, wie sie hier entlangfährt, die Hände um ihre Tasche geschlungen, in Erwartung einer ungewissen Zukunft. Wie sie den ersten Blick auf dieses Haus wirft, wie der Wagen langsamer fährt und ganz stehen bleibt und wie sie aussteigt, mit gewölbtem Bauch. Ob jemand sie begrüßt hatte, eine der braunen Schwestern vielleicht? Waren sie freundlich zu ihr gewesen? Hatte sie sich willkommen gefühlt? Und was hatte sie vorher erlebt, zu Hause, mit den Eltern, mit ihrem Paul? Und wieder einmal wurde mir bewusst, wie wenig ich von ihr wusste, wie wenig sie erzählt hatte. Im Grunde wusste ich nichts. Und das, obwohl irgendwo ein Manuskript existierte, ein Buch, das meine Oma geschrieben hatte und in dem ich sicher eine Menge Antworten gefunden hätte! In diesem Moment überkam mich eine schier atemberaubende Wut. Auf mich selbst, dass es mir bisher nicht gelungen war, das Ding zu finden. Auf diesen Verlag, der mir immerhin die fünfzig Seiten hätte zeigen können. Auf Mutter, die mir nichts davon gesagt hatte.
Es hatte zu regnen begonnen und ich bremste ein wenig zu stark und blieb stehen, mit laufendem Motor. Die Scheibenwischer schoben die Tropfen fort und ich sah durch sie hindurch. Alles war noch immer so wie auf den Bildern, die ich gesehen hatte. Der prachtvolle Eingangsbereich mit den vier Säulen, die halbrunden Fenstertüren im Erdgeschoss, vier links und vier rechts des Eingangsportals, die stattliche Fensterfront im ersten Stock und das Türmchen mit dem grünen Kupferdach. Die schiefergrauen Ziegel glänzten vor Nässe. Und trotz der Schönheit und Eleganz hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich nicht hier sein durfte. Dass dieses Haus, dieser Ort mich hier nicht haben wollten, dass ich ein Eindringling war und etwas Verbotenes tat. Im Eingang erschien eine Gestalt und ich sah, dass jemand zu mir herüberblickte. Schließlich schüttelte ichmein Unbehagen ab und gab so viel Gas, dass der Kies wegspritzte. Warum auch immer, ich hatte das Gefühl, dass die Fäden meiner Geschichte in diesem Haus zusammenliefen. Es war eine Art widersinniger Gewissheit, wo ich doch nichts mit Sicherheit wusste, außer dass meine Oma hier ihr Kind zur Welt gebracht hatte. Ich war hergekommen, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Und ich würde mich nicht von einem vagen Unbehagen davon abbringen lassen.
Ich parkte, langte auf den Beifahrersitz und griff nach meinem Mantel. Dann stieg ich aus. Dieser Ort hatte auch heute noch etwas Geheimnisvolles. Und dieses Geheimnis war nur zum Teil begründet in seiner Architektur und in seiner Grandezza. Vielleicht war es seine Geschichte, die Historie der Menschen, die dort gelebt hatten und die immer anders als ihre Nachbarn gewesen waren. Zuerst die Lahusens, die in den Jahren 1928 und 1929 den alten Landsitz im englischen Stil, der vorher dort gestanden hatte, abreißen ließen und das neue Hohehorst für drei Millionen Reichsmark hatten erbauen lassen. Und die bereits 1931 ihr prunkvolles Heim verlassen mussten, als das Unternehmen in Konkurs ging. Auf die Lahusens folgte der Lebensborn, der das Anwesen 1935 erwarb und hier 1938 das vierte von insgesamt neun Heimen eröffnete. Dann kamen die Amerikaner und es fungierte als Offizierscasino, im Anschluss daran wurde es zu einer Tuberkuloseklinik
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