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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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allerdings fast nie darüber gesprochen, und weil ich den Eindruck gehabt hatte, dass es einfach zu schmerzhaft für sie war, über dieses verlorene Leben zu reden, hatte ich auch nicht nachgefragt. Dieselbe Traurigkeit meinte ich nun auch in Frau Willunats Stimme zu hören.
    »Darf ich es trotzdem wissen?«
    »Hm?«
    »Woher Sie kommen.«
    »Aus Groß Rominten. Oder Hardteck, wie sie’s 38 nannten. Hat sich aber nie richtig durchgesetzt, dieser fremde Name.«
    »In Rominten, war da nicht   …«
    »…   der Reichsjägerhof vom ollen Göring, ja, ja.«
    Ich sah sie an, wusste ihre Stimmung nicht recht zu deuten und wartete darauf, dass sie weitersprechen würde. Und das tat sie auch: »Ich hätte ja ohnehin nicht mehr zurückkönnen, auch wenn der Krieg anders ausgegangen wär.«
    Anneliese Willunats Blick war in die Ferne gerichtet. In eine Vergangenheit, die ich nicht sehen konnte, mir aber mit aller Macht vorzustellen versuchte. Wie war das damals gewesen, vor über sechzig Jahren? Ich sah sie an und sie beantwortete meinen fragenden Blick, indem sie fortfuhr: »Ja, als Mutter der
Schande
! Deshalb bin ich ja fort, damals. Was
das
bedeutete, Sie glauben es nicht! Den jungen Frauen von heute ist ja alles erlaubt, ihr werdet noch nicht mal scheel angeguckt. Aber damals   … Als mein Vater erfuhr, dass ich schwanger war, sagte er, er würde mich so lange durchs Dorf jagen, bis das verdammte Balg herausfällt. Stellen Sie sich das mal vor!«
    Ich versuchte es, doch es fiel mir schwer zu glauben, dass diese resolute kleine Person, die hier mit blitzenden Augen vor mir saß, sich hätte durchs Dorf jagen lassen.
    »Und wie ist es ausgegangen?«
    »Ich hab mich beim Lebensborn um einen Platz beworben, heimlich natürlich. Und als der Bescheid kam, hab ich meine Sachen gepackt, viele waren es ja nicht, und bin zum Bahnhof, noch in derselben Nacht.«
    Sie atmete tief, draußen wurde etwas über den Gang geschoben, wahrscheinlich der Essenswagen. Dann hörte man das Klappern von Blech und die Stimmen zweier Pflegerinnen. Anneliese Willunat schien nichts davon zu hören, denn sie fuhr unvermittelt fort: »Sie müssen sich vorstellen: Ich war ja damals schon 23 und hatte sogar einen Beruf, ich war ausgebildete Kinderschwester und hab gearbeitet. Und trotzdem war das, als würde die Welt untergehen! Und das mit dem Lebensborn   … war ja gar nicht so leicht, da unterzukommen. Die haben nicht jeden genommen. Da waren diese ganzen Unterlagen, die man beibringen musste, das Abstammungszeugnis, dann die Untersuchungen. Das Gesicht haben sie mir nichtmit einem Lineal abgemessen. Aber sie haben mich schon ganz genau angeschaut. Und letztlich hat es ja auch geklappt. Und ich bin nach Hohehorst gekommen. Das war ein Palast, kann ich Ihnen sagen!«
    Plötzlich fiel mir ein, dass ich nicht mit leeren Händen gekommen war. Ich holte meine Tasche unter dem Tisch hervor und zog das Buch und die Pralinen heraus. Frau Willunat nahm beides und murmelte mit einem Lächeln, das ihre Worte Lügen strafte: »Aber Kindchen, Sie hätten doch nichts mitzubringen brauchen.« Und als sie die Trüffelpralinen auspackte und anschließend das Buch, sagte sie: »Na, da sieh einer an.«
    Der Bildband über Hohehorst, den ich via Internet aufgetrieben hatte, zeigte das Anwesen 1929, also direkt nach seiner Entstehung, in seiner ganzen Pracht. Frau Willunat schlug das Buch auf und begann zu blättern, fast andächtig. Ich tat, als bemerkte ich die Tränen nicht, die in ihren Augen standen, und war auf einmal unsicher.
    »Das war vielleicht   … nicht gerade das richtige Mitbringsel«, stotterte ich.
    »Ach, Kind. Das ist   … genau das richtige Mitbringsel. Wissen Sie, wie soll ich sagen? Wenn man so alt ist wie ich, kann man sich noch so sehr dagegen wehren, aber das Leben ist nun mal gelebt und alles gehört der Vergangenheit an. Und Hohehorst   …« Sie seufzte und ihr Lächeln war ein wenig zittrig, als sie fortfuhr: »Wir waren ja damals wie aus der Welt heraus an diesem Ort, es ging uns so
gut
dort, das war schon beinahe unwirklich. Um uns herum tobte der Krieg und wir   … Aber das war nicht alles, ich meine, wie soll ich sagen: Wir waren
gewollt
. Nicht geduldet. Wir wurden behandelt, als wären wir wichtig. Sie müssen sich das vorstellen: Erst diese Schande, das Gefühl, ganz tief gefallen zu sein, und dann plötzlich bist du wo und die Leute behandeln dich nicht wie den letzten Dreck, sondern im Gegenteil. Es war unfassbar!«

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