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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Nachdenklich sah sie vor sich hin. Auf dem Gang wurde das Klappernlauter und Frau Willunat, auf einmal wieder in die Gegenwart zurückgeholt, sagte: »Gleich kommt das Abendessen.«
    »Abendessen? Es ist doch erst halb fünf?«
    »Ja, das ist hier eben so.«
    Eine Pflegerin kam herein, stellte ein Tablett auf den Tisch und verschwand wieder.
    »Was ich erst im Nachhinein begriffen habe – vielleicht wollte ich es nicht so recht wahrhaben: Wir haben dort wie im Schlaraffenland gelebt. Mit unserer vielen frischen Milch, die wir jeden Tag bekamen, dem Gemüse, dem Obst   … Hohehorst hatte ja alles selbst: eine Gärtnerei mit Gewächshäusern, Landwirtschaft. Die Mütter wurden bestens versorgt. Und um uns herum tobte dieser Krieg, ist das nicht verrückt? Die Versorgungsschwierigkeiten, die Leute in den Städten, die nix zu beißen hatten. Denen auf dem Land ging’s ja vergleichsweise gut.«
    Sie hielt inne, bot mir von ihrem Tee an und schenkte sich, als ich den Kopf schüttelte, die Tasse voll. Dann sagte sie: »Aber jetzt kommen wir doch mal zum Grund Ihres Besuchs, Marjellchen. Wie kann ich Ihnen denn nun helfen?«
    Ich beugte mich vor, versuchte meine Gedanken zu ordnen und berichtete Anneliese Willunat von meiner Mutter, den Umständen ihres Todes, den Karten und Fotos, die ich gefunden hatte. Sie hörte aufmerksam zu und sagte dann: »Fangen wir doch mal am Anfang an. Sie müssen wissen, ich war ja zwei Jahre in Hohehorst, ich hab meinen Walter dort bekommen und dann eine Anstellung beim Lebensborn angetreten. Das war vielleicht ein Glück für mich! So konnte ich arbeiten und war gleichzeitig bei meinem Kind. Eigentlich eine moderne Lösung, nicht wahr? Heut gibt es doch auch Firmen mit eigener Kinderbetreuung. Aber was wollt ich jetzt eigentlich sagen? Ach ja, dass ich natürlich viele Mütter hab kommen und gehen sehen in den zweieinhalb Jahren als Kinderschwester, in denen ich in Hohehorst war. Wie hieß denn Ihre Großmutter?«
    Mit klopfendem Herzen nannte ich Frau Willunat den Namenmeiner Großmutter. Sie blinzelte ein bisschen und ihr Blick schien sich irgendwo an der Zimmerecke zu verlieren. Sekunden verstrichen. Sollte ich meine Reise ganz umsonst gemacht haben? Auf einmal erhellte sich ihr Gesicht und sie rief: »Aber natürlich erinnere ich mich   … die hat doch im Büro gearbeitet. Ein flottes Mädel war das, kann ich Ihnen sagen. War ja noch jünger als ich damals, die Arme! Aber dass sie aus Königsberg war, daran erinnere ich mich nicht. Auf jeden Fall gehörte sie wie ich zu den Angestellten und war längere Zeit im Heim. Ich bin ja dann weg   … nach Steinhöring. Aber sie ist geblieben. Ich glaube, bis Kriegsende.«
    Das Blut schoss mir in den Kopf. Jetzt war ich auf dem richtigen Weg, vielleicht würde ich gleich etwas erfahren, etwas Wesentliches.
    »Ja, ja   … im Sekretariat hat sie gearbeitet, immer gute Laune und einen Witz! Der hat das alles nicht viel ausgemacht.«
    »Wie meinen Sie ›das alles‹?«
    »Na, ich hatte am Anfang schon zu kämpfen, schwanger und ohne Mann, aber Ihre Großmutter war damals schon sehr selbstbewusst eingestellt. So wie ihr jungen Leute heute! Mein lieber Herr Geheimrat, das war eine ganz Hübsche. Und eine ganz Überzeugte! Sie war ja auch in der Partei und hat für den Hitler feurige Reden geschwungen.«
    Frau Willunat nahm noch einen Schluck Tee und stellte dann den Löffel in die leere Tasse. Sie begann ihr Tablett aufzuräumen, legte das Besteck ordentlich auf den Teller. Dann sah sie auf, mir in die Augen: »Aber Kindchen, was ist denn?«
    »Nichts, nichts   … ich   …«
    »Weil ich das gesagt habe, von wegen ganz überzeugt und so?«
    »Ehrlich gesagt   … ja.«
    »Na, irgendwo müssen die Mitglieder ja gewesen sein! Nun nehmen Sie sich das mal nicht so zu Herzen.«
    »Es ist nur so, dass meine Großmutter mir ein anderes Bild vermittelt hat   … von sich und ihrer Einstellung dazu.«
    »Ja, hinterher ist man immer schlauer, so ist es nun mal. Aber sie war nicht aggressiv oder so. Sie war keine Denunziantin oder hinterhältig, wenn Sie das beruhigt. Sie ist auch nicht auf andere losgegangen, die, nun sagen wir mal so, etwas zurückhaltender in ihrer Überzeugung waren. Und sie hatte da doch diese Freundin   … leider erinnere ich mich nicht mehr an ihren Namen   … die hat sie ein bisschen gebremst. Überhaupt waren die ganz dick miteinander. Wie hieß die nur?«
    Die Tür ging auf und eine andere Pflegerin räumte das Tablett

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