Herbstvergessene
sie ihn und sie gesehen hat. Sie waren sich wohl ziemlich nah.«
Ihre Worte trafen mich völlig unvorbereitet und meine Gedanken zersplitterten, bevor ich sie erkennen konnte. Doch da sprach Frau Willunat schon weiter: »Na ja, er war ein gut aussehender Mann, der Herr Doktor, das ja. Groß und blond war er und blaue Augen hatte er, sah halt so aus, wie sie damals aussehen sollten. Er war wohl auch sehr wohlhabend oder seine Familie war’s. Aber … ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll,und abgesehen davon, dass er ein Schwerenöter war … er war kein guter Kerl. Er hatte so was im Blick, da fror es mich geradezu. Aber das war nur so ein Gefühl von mir, das sollten Sie nicht zu ernst nehmen.«
»Wissen Sie noch, wie der Arzt hieß?«
Natürlich wusste ich die Antwort schon, bevor Frau Willunat sie mir gab.
»Sartorius. An
diesen
Namen erinnere ich mich.«
Auf einmal hörte ich Anneliese Willunats Stimme wie aus weiter Ferne. Das konnte, das durfte doch einfach nicht wahr sein. Großmutter und Sartorius.
»… haben wir ihn den
Schönen Heinrich
genannt. Auf jeden Fall war er der Belegarzt von Hohehorst. Und er kam von extern. Er hatte eine Praxis … ich glaube, in Bremen. Aber was ist denn, Kindchen?«
»Nichts … ich … bin nur etwas müde. Die lange Fahrt.«
Ich sah Frau Willunats besorgten Blick auf mir. Ich lächelte ihr zu, dann fragte ich: »Was wollten Sie gerade sagen?«
»Tja … was war das noch? Ach so. Der Lebensborn hat für Hohehorst irgendwie keinen Mediziner bekommen, der das hauptberuflich machen wollte. Und dann«, sie senkte die Stimme, »war er ja noch an irgendwelchen Forschungsprojekten beteiligt, da wurde ja auch so einiges gemunkelt.«
»Ach ja, was denn?«
Doch statt einer Antwort machte Frau Willunat eine wegwerfende Geste. »Olle Kamellen. Was wollen wir die wieder aufwärmen. Irgendwann ist auch mal Schluss!« Sie sah an mir vorbei und ihr Blick verriet, dass sie zu dem Thema nichts mehr sagen würde.
»Und diese Freundin?«, fragte ich schließlich. »Wissen Sie, was aus ihr geworden ist?«
»Ach, Marjellchen. Es hat uns doch in alle Winde zerstreut damals. Wie gesagt, ich war ja bei Kriegsende nicht mehr in Hohehorst. Und dann wurde alles immer chaotischer. In Steinhöring wurden dann sogar Akten verbrannt!« Frau Willunatschloss die Augen. Erst da bemerkte ich, dass es dunkel geworden war. Ich erhob mich und sagte:
»Ich habe Sie viel zu lange aufgehalten.«
Sie blinzelte und lächelte mir zu: »Eine willkommene Abwechslung in einer Umgebung, in der es hauptsächlich um Katheter und die richtige Marcumar-Einstellung geht. Und vielleicht habe ich ja auch noch ein paar alte Fotos für sie. Ich werde meinen Sohn fragen. Und dann schick ich sie Ihnen. Versprochen!« Frau Willunat machte Anstalten, ebenfalls aufzustehen, doch ich winkte ab und ergriff stattdessen ihre Hand. Sie fühlte sich weich an und kühl. Einen Augenblick lang hielt ich sie schweigend, dann beugte ich mich zu ihr herunter und umarmte sie kurz: »Ich danke Ihnen sehr.«
Der Korridor war leer und still, die Beleuchtung gedämpft. Eilig ging ich zum Ausgang, meine Schritte klangen dumpf auf dem Linoleumboden. An der Pforte flimmerte ein kleiner Fernseher tonlos vor sich hin und warf zuckende Schatten. Aus dem Raum dahinter war das Klirren von Tassen zu hören. Ich drückte die schwere Glastür auf und trat hinaus in die Dunkelheit. Während ich auf mein Auto zuging, fielen die ersten Tropfen schräg von vorne. Ein Wagen startete im hinteren, unbefestigten Teil des Parkplatzes und fuhr davon. Ich sah kurz auf, doch ich konnte nicht erkennen, ob ein Mann oder eine Frau hinter dem Steuer saß. Ich war bei meinem Auto angelangt und sah die roten Rücklichter des Wagens im Wald verschwinden. Aus irgendeinem Grund war ich plötzlich überzeugt, dass der Fahrer auf mich gewartet hatte. Rasch stieg ich ein und verriegelte die Tür von innen.
Durch Wald und Dunkelheit fuhr ich zurück zum Hotel. Wie überdimensionale Streichhölzer glitten die Stämme der viel zu dicht gepflanzten Fichten an mir vorüber, dann lichtete sich der Wald und ich fuhr vorüber an versprengten Höfen. Die Gedanken purzelten durcheinander, ich sah meine Großmutter, eine andere Charlotte als die, die ich zu kennen geglaubt hatte, und versuchte sie mir mit Sartorius vorzustellen.Offenbar war alles ganz anders gewesen, als ich geglaubt hatte. Oma eine überzeugte Nationalsozialistin, eine Frau, die auf den
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