Herbstvergessene
nicht zu erkennen gab, was sie fühlte oder dachte. Fühlte und dachte sie überhaupt irgendetwas in diesem Moment?
»… du bereit, die Erziehung des Kindes im Sinne des Sippengedankens unserer Schutzstaffel stets zu überwachen?«
Vorne erfolgte ein erneuter Handschlag. Und dann nahm Dr. Sartorius den S S-Dolch von einem Samtkissen und hielt ihn über das Kind und berührte es damit: »Ich nehme dich hiermit in den Schutz unserer Sippengemeinschaft und gebe dir den Namen …«
In diesem Moment fiel mein Blick auf Herrn Huber, der ganz am Rand stand und die vier Menschen vorn mit angespanntem Gesicht beobachtete. Lag da nicht ein grimmiger Zug um seinen Mund? Aber warum hätte ihm diese Namensweihe missfallen sollen? Es war nicht die erste Zeremonie dieser Art, an der er teilnahm. Wusste er etwas, das ich selbst nur mutmaßte? Ich war verwirrt, wahrscheinlich bildete ich mir all das nur ein. Als ich wieder nach vorne sah, hielt der Zeremonienmeister Hanna die Urkunde hin, sie griff danach und ging mit Urkunde und Kind zurück an ihren Platz. Und als Nächstes war die Reihe an mir.
Nach der Zeremonie gab es Kaffee und Kuchen. Wenn ich zurückdenke an die eigenartige Durchmischung von dienstlicher Pflicht, der ich an jenem Tag als Angestellte des Hauses nachkam, und privatem Feiertag, der es für mich als Lebensborn-Mutter war, kommt es mir vor, als hätte ich eine Doppelrolle in einem Film gehabt. Auf jeden Fall huschten wir Angestellten, als die Festgemeinde die große Halle zu einem Spaziergang im Park verlassen hatte, in die Bibliothek, wo die Tische für die Kaffeetafel fertig gedeckt werden mussten.
Paulchens Pate war ein S S-Mann von etwa dreißig, unverheiratet, ein sympathisch aussehender Kerl mit einem Lausbubengesicht, auf dem meist ein Ausdruck großer Belustigung lag. Er trug den stolzen Namen Maximilian Fürst und gehörte der 9. Reiterstandarte in Bremen an. Nach der Zeremonie hatte er Paulchen von sich gehalten, ihn angegrinst und gesagt: »Na, junger Herr Paul, wo ist denn Ihre Uniform?«, und ich weiß noch, dass ich dachte: So ist der erste Mann, der dich im Arm hält, ein völlig Fremder.
Den restlichen Nachmittag wich Maximilian Fürst nicht mehr von meiner Seite, was mich ein wenig hemmte, da ich mir vorgenommen hatte, Hanna unauffällig im Auge zu behalten. Er legte mir Kuchenstücke auf den Teller, schenkte mir Kaffee nach und erwiderte jedes Wort von mir mit Aufmerksamkeit und einem lustigen Lachen.
Es war schon später Nachmittag, als ich Sartorius’ Blick auf mir spürte. Er saß uns schräg gegenüber am Nachbartisch, dort, wo auch die Vorstände, Oberschwester Berta und Herr Huber saßen. Ich weiß noch, dass ich wegen irgendetwas, das Maximilian sagte, Tränen lachte, der halbe Tisch lachte mit. Ich tupfte mir die Augen, und in dem Moment, als ich die Serviette senkte, den Kopf hob und aufsah, begegneten sich unsere Augen. Sein Blick hatte etwas Bohrendes, Humorloses, doch hinter diesem Ausdruck meinte ich noch etwas zu sehen: die Ahnung eines Gefühls, das sich mir aber erst später erschloss. Ich löste meinen Blick aus seinem, wandte den Kopf und sah hinaus. Vor den hohen Fenstertüren stand die Dämmerung, in der Ferne, am Rand der weitläufigen Rasenfläche, leuchteten die Buchen rostrot und ich sah, wie der Wind die Blätter durch die Luft wirbeln ließ. Es regnete inzwischen und grauschwarze Wolken türmten sich dramatisch vor einem hellrosa Himmel. Wie unheilvolle Vorboten, dachte ich, und als meine Augen wieder zurückfanden in den Raum, ruhte Sartorius’ Blick immer noch auf mir. Nur dass auf seinen Lippen jetzt ein Lächeln lag.
Am Nachmittag des nächsten Tages fuhr ich zum Altersheim. Ich streckte der kleinen Frau die Hand hin und lächelte. »Willunat, das klingt doch …«
»Ostpreußisch?« Sie lächelte zurück. »Stimmt.«
»Meine Oma kommt … kam auch von dort.«
Anneliese Willunat sah mich interessiert an: »Ja? Woher denn?«
»Aus Königsberg. Und woher kommen Sie?«, fragte ich.
»Ach, Kind. Das sagt Ihnen doch sowieso nichts.«
Zu Anneliese Willunat fühlte ich mich sofort hingezogen, und noch bevor das eigentliche Gespräch begann, hatten wir einen Draht zueinander, der seinen Ursprung in einer fernen Vergangenheit und einem verlorenen Land hatte. Jetzt erst fiel mir auf, dass es doch ein paar Dinge gab, die ich über Oma Charlotte wusste. Zum Beispiel, dass sie ihre Kindheit in Ostpreußen verbracht hatte. Sie hatte
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