Hercule Poirots Weihnachten
unauffällig und atmete den Geruch von Mottenkugeln ein. Wie konnte man sich nur mit so etwas parfümieren, dachte sie erstaunt.
Ein Pfeifsignal, eine schrille Stimme, die irgendeinen Befehl schrie, und der Zug rollte langsam aus der Halle. Nun war sie also unterwegs.
Ihr Herz klopfte schneller. Würde alles gut gehen? Würde sie erreichen, was sie sich vorgenommen hatte? Sicher! Ganz sicher! Sie hatte doch alles so sorgfältig überlegt. Sie war auf jede Möglichkeit vorbereitet. O ja, sie würde, sie musste Erfolg haben!
Pilars schön geschwungene Lippen verzogen sich plötzlich. Mit einem Schlag wurde der Mund grausam. Grausam und lüstern – wie der eines Kindes oder einer jungen Katze –, ein Mund, der nur seine eigenen Begierden kannte und der nichts von Mitleid wusste.
Sie betrachtete die Menschen ringsum mit der Neugier eines Kindes. Komisch sahen sie alle aus, diese Engländer. Begütert, erfolgreich, jedenfalls nach ihren Schuhen und Kleidern zu schließen. Zweifellos war England ein sehr reiches Land, das hatte sie ja immer sagen hören. Aber fröhlich waren diese Leute nicht, ganz und gar nicht fröhlich.
Im Seitengang stand ein hübscher Mann. Pilar fand ihn ausgesprochen hübsch. Sein tief braunes Gesicht mit der scharf geschnittenen Nase und die breiten Schultern gefielen ihr. Viel rascher als jede junge Engländerin so etwas bemerkt hätte, waren Pilar die bewundernden Blicke des Mannes aufgefallen, ohne dass sie je direkt in seine Richtung sah.
Nicht, dass diese Tatsache sie sonderlich erregt hätte. Sie kam aus einem Land, wo Männer Frauen unverhohlen bewundernd betrachten dürfen. Sie fragte sich, ob er wohl Engländer sei.
Nein, dazu ist er viel zu lebendig, zu real, entschied sie. Andererseits ist er fast blond. Wahrscheinlich ein Amerikaner. Tatsächlich erinnerte er sie an einige der Helden aus Wildwestfilmen.
Ein Kellner schob sich durch den Seitengang.
«Erstes Mittagessen! Bitte Platz zu nehmen zum ersten Mittagessen!»
Die sieben Mitreisenden aus Pilars Coupe, die alle Karten für das erste Mittagessen hatten, erhoben sich wie ein Mann, und plötzlich war das Abteil leer und still.
Als Erstes schob Pilar das Fenster zu, das von einer kriegerisch aussehenden grauhaarigen Dame einige Zentimeter geöffnet worden war. Dann kuschelte sie sich behaglich in die Fensterecke und ließ die nördlichen Vorstädte Londons an sich vorbeiziehen. Als die Tür zu ihrem Abteil aufging, brauchte sie nicht einmal den Kopf zu wenden, um zu wissen, dass nun der Mann aus dem Korridor hereingekommen war, um sie anzusprechen.
Sie fuhr fort, gedankenverloren aus dem Fenster zu sehen.
«Soll ich es vielleicht herunterlassen?», fragte Stephen.
Pilar antwortete mit damenhafter Zurückhaltung: «Im Gegenteil. Ich habe es eben erst zugemacht.»
Sie sprach fließend Englisch, aber mit einem leichten Akzent.
Während des Schweigens, das nun eintrat, dachte Stephen: eine süße Stimme. Sonne liegt darin, die Wärme einer Sommernacht.
Pilar dachte: Ich mag seine Stimme. Eine kraftvolle, schöne Stimme. Er sieht überhaupt gut aus – außerordentlich gut sogar.
«Der Zug ist ziemlich überfüllt», sagte Stephen.
«Allerdings. Die Leute fahren aus London fort, wahrscheinlich weil es dort so schwarz ist.»
Pilar war nicht in dem Glauben erzogen worden, mit unbekannten Männern zu sprechen sei ein Verbrechen. Sie konnte sehr gut auf sich aufpassen, aber ein strenger Sittenkodex war ihr fremd.
Wäre Stephen in England aufgewachsen, dann hätte er sich vermutlich bei diesem Gespräch mit einer jungen Frau denkbar unbehaglich gefühlt. Aber Stephen war ein liebenswürdiger Mensch, und so fand er es durchaus natürlich, dass man miteinander redete, wenn man Lust dazu hatte.
Er lächelte verständnisinnig. «London ist eine grässliche Stadt, oder finden Sie das vielleicht nicht?»
«O doch! Ich mag sie gar nicht.» Pilar sah ihn an. «Sie sind kein Engländer, nicht wahr?»
«Ich bin Brite, aber aus Südafrika.»
«Ach so. Das erklärt alles.»
«Und Sie kommen auch aus dem Ausland?»
Pilar nickte. «Ich komme aus Spanien.»
«Aus Spanien?» Stephen war sehr interessiert. «Dann sind Sie also Spanierin?»
«Halb und halb. Meine Mutter war Engländerin. Deshalb spreche ich Englisch.»
«Wie steht es mit dem Krieg in Spanien?»
«Es ist schrecklich, sehr, sehr traurig. So viele Zerstörungen überall.»
«Auf welcher Seite stehen Sie?»
Pilars politische Anschauungen schienen reichlich unklar zu
Weitere Kostenlose Bücher