Hering mit Heiligenschein
voller Stolz. Ich vermutete damals allerdings, sie wollte nur meine wahre Herkunft verschleiern: ein Findelkind, entdeckt in einer blauen IKEA-Plastiktüte gleich neben dem Knäckebrotregal.
Mit sechzehn ließ ich mir die Haare zu Stoppeln rasieren und färbte sie dunkelrot, wurde Stammgast im Solarium und trug ausschließlich Minimizer-BHs. Trotzdem riefen die jüngeren Schüler immer nur feixend »die Schwedin«, wenn sie mich von weitem sahen. Erst auf der Uni, beim Germanistikstudium, lernte ich, dass hochgewachsene, blonde, vollbusige Frauen sich bei Männern großer Beliebtheit erfreuen. Leider werden sie auch ebenso gerne für dumm und naiv gehalten, zwei Eigenschaften, die mir, Åsa Glück, so fremd sind wie Blodpudding, die schrecklichste Erfindung der schwedischen Küche.
Immer noch leicht benebelt von den Ereignissen des vergangenen Abends, setze ich mich im Bett auf und versuche, mich mit ein paar Lotos-Variationen in einen gelasseneren Bewusstseinszustand zu bringen. Yoga ist die neueste Entdeckung meiner Freundin Katha, und da Katha mich mit grenzenlosem Enthusiasmus für alles und jedes zu entflammen versucht, mache ich die jeweils akute Leidenschaft gehorsam mit. Bis der nächste Trend kommt, der uns körperliche und geistige Gesundheit verschaffen soll. Shiatsu, Klangschalenmassage und Reiki haben wir bereits hinter uns, aber nichts davon hat mir die Panik genommen, die mich alljährlich um den zweiten Advent herum befällt.
Seit Inga und ich nicht mehr daheim leben, sondern uns in die offenen Arme der Großstadt Wien geworfen und uns hier vollkommen IKEA-freie Refugien geschaffen haben, frei von Billy, Gorm und Ivar, ist vieles besser. Doch während Inga, Studienabbrecherin, Hausfrau und Mutter zweier entzückender blonder Kinder, die nach Oma und Opa Hildesson zu geraten drohen, das bereits als Abgrenzung genügt, ist meine Ablehnung weitaus umfassender. So kommt es jedes Jahr am vierundzwanzigsten Dezember zu mehr oder weniger ähnlichen Szenen. Die dünnen, dunkelhaarigen und vernunftbegabten Mitglieder der Familie essen Mutters Heringe, sehen Donald Duck im Fernsehen und strahlen mit der Festbeleuchtung um die Wette, während die blonden Schwedinnen, also meine zwei Nichten und ich, um die Wette plärren. Erstere aus Vorfreude auf die Geschenke, Letztere aus Prinzip.
Doch dieses Jahr ist alles anders, sage ich mir, als ich meinen Kreislauf mit Wechselduschen in Gang bringe. Diesmal kann ich Weihnachten getrost über mich hereinbrechen lassen, weil ich es nach meinen eigenen Wünschen gestalten werde. Denn – das Stichwort Wünsche passt ausgezeichnet – dieses Jahr ist der Heiligabend mein Streichtag!
Noch kurz vor Mitternacht habe ich nämlich gegoogelt. Schließlich muss es, wenn das Wunschwellenprinzip wahrhaftig existiert, andere Betroffene geben, denen Ähnliches zugestoßen ist. Und tatsächlich entdeckte ich ein Internetforum, das sich mit Feenbestellungen befasst und Hilfe für Menschen anbietet, bei denen die Wünsche nicht ganz nach Plan laufen. Da gibt es zunächst eine gewaltige Fraktion von Rachewünschern, die andere Menschen ohne Skrupel in Tiere oder Gegenstände verwandeln lassen oder sie an weit entfernte Plätze verwünscht haben. Meist sind sie voller Reue und haben jede Menge Probleme, diese bösen Hexereien rückgängig zu machen. Dann findet sich eine enorme Gruppe materieller Wünscher, die sich mit Hilfe der Feen ihr Leben verbessert haben, sei es durch Reichtümer aller Art, kosmetische Verschönerung oder den Traumpartner an ihrer Seite. Von ihnen liest man nur begeisterte Berichte, die sie wahrscheinlich auf ihren diamantbesetzten Notebooks von Südseestränden aus verfassen.
Nun, und dann gibt es noch eine dritte Gruppe: Menschen wie mich, deren Wunschvorstellungen komplizierter sind. Allen gemeinsam ist jedoch die Aussage, dass es funktioniert und dass es tatsächlich unmöglich ist, einmal erfüllte Wünsche wieder rückgängig zu machen. Aber das ist das Letzte, was ich vorhabe. Denn seltsamerweise schreibt niemand von mehrfachen Feenbesuchen, und mein Motto, im privaten wie im beruflichen Bereich, ist immer schon gewesen: Nutze deine Chance, es ist womöglich deine einzige!
Nachdem ich ein ausgiebiges, süßes und völlig fischfreies Frühstück mit der ungestörten Lektüre meiner bevorzugten Tageszeitung verbracht habe, mache ich mich kurz nach Mittag mit dem Auto auf den Weg zu meinen Eltern. Der Plan ist, die Geschenke für die Kinder abzugeben und
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