Hering mit Heiligenschein
okay?«
Verdutzt blinzelt der Feerich und tippt sich nachdenklich an die Schläfe.
»Oh nein, also über die Zeit haben wir keine Verfügungskraft, sonst würde ja jeder ruck, zuck in die Zukunft springen, wie es ihm beliebt. Leider. Wir sind keine Science-Fiction-Helden. Aber ich kann dir anbieten, dass du am fünfundzwanzigsten aufwachst und dich an nichts erinnerst, was an Heiligabend geschehen ist. Im Fachjargon nennen wir das einen ›Streichtag‹. Du kannst anstellen, was du willst, es wird am fünfundzwanzigsten vergessen sein, sowohl von dir als auch von anderen. Das ist, als ob Weihnachten nicht existiert hätte. Einverstanden?«
Ich komme mir vor wie bei der Honorarverhandlung mit einem findigen Agenten, nicke jedoch eifrig und will dem Wesen gerade auf die Engelsschulter klopfen, als etwas wirklich Merkwürdiges geschieht.
»Last Christmas, I gave you my heart, but the very next day, you gave it away, this year ...«
Das Wesen – die Fee! – hebt singend die rechte Hand, schnippt mit den Fingern und löst sich mit einem lauten »Plopp« direkt vor meinen Augen in Luft auf. Nicht einmal ein einziges Goldhärchen bleibt von ihm zurück. Dafür taucht Tobias Andreka in meinem Gesichtsfeld auf und winkt mit der Hand vor meiner Nase.
»Halloho, jemand zu Hause? Sie sehen ja aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen, Frau Glück. Mund zu, sonst schlucken Sie noch eine Fliege oder was Schlimmeres.«
Er grinst anzüglich. Ich wünschte mir,
er
wäre ein Gespenst.
»Wissen Sie vielleicht, wohin der Typ im Engelskostüm verschwunden ist?« frage ich ihn.
Andreka kichert.
»Engelskostüm? Also Frau Glück, wie tief haben Sie denn schon in meine Spezialbowle geschaut? Die ist aber auch stark, zugegeben.«
Ich lasse ihn wortlos stehen und sehe mich um. Kein Engel weit und breit. Tamara schaut mit vor der Brust verschränkten Armen und mürrischem Blick zu, wie die Herren von der Haustechnik die Reste des Christbaums zusammenkehren. Der Weihnachtsmannaufsteller neben ihr wirkt wie eine bösartige Message an meine Adresse. Ansonsten sind alle wieder mit ihrer glückseligen Weihnachtsstimmung beschäftigt und ignorieren mich mit meinem Fragezeichen im Gesicht. Ich stelle mein immer noch halb volles Glas Wein ab, hole meinen Mantel aus meinem Büro und trete, mit einem letzten Blick zurück in das feenlose Gebäude, auf die Straße hinaus. Es regnet in Strömen.
Was für ein Abend!
***
Es ist wie ein seltsamer Zufall, dass mich am nächsten Morgen ausgerechnet
Wham!
weckt. »This year, to save me from tears«, plärrt es aus dem Radiowecker, ehe ich den Knopf finde, der das Gerät verstummen lässt. Mit einem erleichterten Seufzen lasse ich mich zurück ins Kissen fallen. Hinter mir liegt eine Nacht voll schrecklicher Träume. Tobias Andreka im Engelskostüm, der wie ein Drache feuerspeiend das Verlagsgebäude in Brand setzt. Und zu allem Überfluss ist Weihnachten. Mein vierunddreißigstes verfluchtes IKEA-Weihnachten.
Stockfisch und Hering. Schon beim Gedanken daran dreht sich mir der Magen um. Meine Mutter, eine gebürtige Schwedin, fährt jedes Jahr am dreiundzwanzigsten Dezember zu IKEA. Dort kauft sie nicht nur die halbe Gourmetabteilung leer, sondern auch immer wieder neuen Christbaumschmuck, als lagerten nicht bereits Tonnen davon im Keller und in der Garage. Der Baum muss riesig sein, der Glögg hausgemacht, die Heringe nach Geschmacksrichtungen sortiert und die Geschenke mit Schleifen sowie kleinen Anhängern geschmückt. Dazu besitzt meine Mutter ein Regal voller Bastelanleitungsbücher und ist Mitglied der örtlichen Handarbeitsrunde, die jedes Jahr ein neues Motto ausruft und mit Feuereifer Krippen, Engel, Tischdeko oder Häkelsöckchen herstellt. Der Pfefferkuchen meiner Mutter ist eine regionale Berühmtheit. Wer zum ersten Mal vor ihrer ausgeklügelten Lichtinstallation steht, die mein Elternhaus in der beschaulichen Vorstadtsiedlung glitzern, funkeln und kilometerweit strahlen lässt, dem fällt für gewöhnlich die Kinnlade herunter. Würde man sagen, meine Mutter lebt hauptsächlich für diesen einen Tag im Jahr, ist das keine sonderliche Übertreibung.
Ich hingegen hasse Weihnachten von ganzem Herzen. Dabei bin rein optisch
ich
die Schwedin in der Familie. Während meine Eltern und meine Schwester Inga allesamt kurze, dünne, dunkelhaarige Menschen sind, rage ich auf jedem Familienfoto als blonde Hünin heraus. Wie Oma und Opa Hildesson, erklärt meine Mutter mir, seit ich klein bin,
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