Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
alle seltsamen Zustände seines Kurgastes so
überaus gut, als sei es nicht nur der Ischiatiker Hesse, um den es
geht, sondern der Dichter selbst. Und aus diesem kaum greifbaren
lustigen Doppelspiel zwischen den beiden Hesses, dem Kurgast und
dem Dichter, dem »Ischiatiker« und seinem Beobachter, entsteht der
Witz des Buches. Sogar in der Szene, wo es ernst zu werden droht,
wo es zu einem Raufhandel zwischen besagtem Kurgast und dem
Herrn Kesselring zu kommen droht –, wie liebenswürdig weiß der
Dichter den Handel in ein donquichottisches Selbstgespräch
hinauszuführen. Auch in der Szene mit dem anklägerischen
Holländer, der so unverschämt gesund ist –, wie launig spielt sich die
ganze Auseinandersetzung mit dem Zimmernachbarn nur in der
Vorstellung, der Phantasie ab. Der Kurgast und auch der Dichter
Hesse, sie scheinen zu visionären Selbstgesprächen zu neigen, die
mit Ischias natürlich nichts mehr zu tun haben.
Dann aber, nachdem Kurgast und Dichter längst eine einzige Person
geworden sind; nachdem eine herzhaft aufsteigende Lachlust des
Beobachters die etwas stockige, vordergründige Badeatmosphäre
zerblasen hat, beginnt man mit einemmal zu empfinden, daß es sich
nicht nur um Symptome, sondern um ein Symbol handelt; daß da
neben Scherz, Satire und Ironie auch eine tiefere Bedeutung ist. Der
Zeitgenosse selbst, in Literatur und Gesellschaft, ist ein solcher
Kurgast, dessen Krankheit man nicht recht festzustellen vermag.
Nicht nur eine kleine und spezielle, sondern auch eine große, eine
allgemeine Flucht in den Heiligenhof hat begonnen. Und es wird sehr
fühlbar, daß der Dichter Hesse Probleme und Beängstigungen hat,
die er, nach seiner Gewohnheit, mehr zu verbergen als zu enthüllen
bestrebt ist. Es kommen da in der lustigen Partitur einige
wohlarrangierte Paukenschläge, einige Schwergewichte und heftige
Tremolos, die offenbar durch die frohe Lustigkeit nur vorbereitet
waren.
Da steht mitten in einem mondänen Text auf einmal das
Christengebot von der Nächstenliebe so neu, als handle es sich um
eine Yogamethode, und man erinnert sich, daß schon der Präzeptor
Lohse dieses Gebot gegen eine Gemütskrankheit verordnet hat. Da
steht der seltsame Passus von der Doppelmelodie und den
auseinanderstrebenden Polen, die der Dichter Hesse immer wieder
159
zusammenzubiegen versuche, ohne daß es ihm gelingen wolle. Und
da steht, tröstlich zu vernehmen, die Selbstgemahnung, daß er, der
die Stimme der indischen Götter vernommen, so jämmerlich habe
dem Krankheitszauber erliegen können. Die ganze Problematik ist
vorhanden, und doch nur so, wie ein graziöses Sigill die
Anfangsbuchstaben enthält. Für den Kundigen ist alles gesagt, und
doch kann man das Wort nicht greifen, nicht dingfest machen. Diese
leichten, hingewehten Sätze deuten auf eine schlimme Depression,
die alle Welt beherrscht, und das Thema ist doch so sehr mit den
Fingerspitzen, mit soviel Behutsamkeit angepackt, als gelte es die
äußerste Delikatesse und Vorsicht, die äußerste Schonung und
Begütigung, um nur ja auch nicht die Idee aufkommen zu lassen, es
gehe hier um so bösartige, melancholische, verzwickte und
verfädelte Dinge, wie sie die Seelenärzte in ihren lächerlich einfachen
Rubriken führen.
Mit diesem Büchlein von knapp hundertsechzig Seiten findet sich
Hesse mitten im Thema der Neurose des modernen Künstlers; einem
Thema, das mit heftigem Akkord der »Klingsor« eingeleitet hatte.
Dieses letztere Buch war unbewußt entstanden. Als der Dichter die
Erzählungen »Kinderseele« und »Klein und Wagner« schrieb, war
ihm kaum deutlich, welchen Gesamtaspekt jenes Buch durch die
Hinzufügung der Titelnovelle bekommen würde. Wenn ich nicht irre,
ging ihm das Thema, von dem hier zum Schlusse zu sprechen ist,
erst bei der Zusammenstellung der drei Erzählungen zu einem
Bande, vielleicht sogar erst später auf. Im Zusammenhang stellt
»Klingsor« das Problem der Romantik, und zwar ihr pathologisches,
ihr Leidensproblem dar; neben dem Dichter Hesse erscheint ein
Denker von beträchtlicher Tiefe und Finesse. Die Entstehung der
Klingsor-Komposition zeigt aber auch, daß dieser Autor sich seine
Problematik keineswegs wählt, daß sie ihm vielmehr inmitten seines
Erlebens überraschend aufleuchtet. Mir scheint, das deute auf eine
Berufung, auf eine Erwählung zum Instrument für besondere
Anliegen einer Macht, die Hesse im »Kurgast« analytisch erst
Weitere Kostenlose Bücher