Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
gefüllter Eichenfässer eben diese Treppen hinabpoltern. Und dann sahen sie plötzlich – eine winzige, nahe zu unscheinbare und doch schreckenerregende Bewegung – etwas verschwinden, was man bis zu diesem Zeitpunkt für eine kleine Schneekappe auf einem der Felsen hätte halten können.
Tatsächlich war es ein Teil des Gletschers, der nun unaufhaltsam ins Rutschen gekommen war. Und das klang, als zerbreche die ganze Erde und der Himmel gleich mit dazu. Alles um sieherum dröhnte, auf einer tiefen, den Bauch zum Erzittern bringenden Frequenz, mehr spür- als hörbar.
»Wir sind nicht in der direkten Gefahrenzone«, überlegte Adrian laut und hastig. »Der Teil des Eisschilds, der nach Norden abrutscht, wird in der Bucht niedergehen, und die Flutwelle dort wird durch die beiden Felsvorsprünge abgelenkt … und das Eis, das im Süden ins Meer stürzt, da werden wir auch nur Ausläufer abbekommen …«
»Amen«, rief Morley, krallte sich an die Leine und senkte den Kopf auf den Druckschlauch.
Charlotte tat es ihm gleich. Adrian rief noch etwas, aber da war das Donnern ringsherum schon zu laut, als dass man noch ein Wort verstanden hätte.
Das ist nur ein Ausläufer , wiederholte Charlotte für sich, als das Boot von unsichtbarer Hand in die Höhe gehoben wurde. Wir sind nicht in der direkten Gefahrenzone , sagte sie sich, als es unvermittelt wieder in die Tiefe sackte.
Dann hämmerte ein Brecher auf sie herab, als habe jemand über ihnen ein Schwimmbad voll atemberaubend eiskaltem Wasser umgekippt. Einen grauenhaften Moment lang fühlte Charlotte nichts, hatte das Gefühl zu schweben, und wäre da nicht die Leine gewesen, sie wäre einfach davongeschwebt. Dann ein Schlag von irgendwoher, eine wilde, gewalttätige Ausreißbewegung der Leine, die ihr das Armgelenk auskugeln zu wollen schien – und Charlotte war wieder da, in einem Boot, halb voll mit Eiswasser.
»Verdammt!«, schrie jemand. Adrian, dicht neben ihr. Er bewegte sich, schnell und wütend. Schaufelte mit irgendetwas das Wasser über Bord, in einem fort fluchend. Die meisten Flüche hörte sie zum ersten Mal im Leben, und irgendwie fand sie diesen Vorrat an bislang ungenutzter Empörung beeindruckend.
Das Boot stampfte und taumelte, hin und her, auf und ab, als sei es auf den Schienen einer missratenen Achterbahn gelandet. Es war Charlotte unverständlich, wie Adrian etwas anderes tun konnte, als sich festzukrallen, so gut es nur ging. Ringsumtobte das Meer, war ein gischtdurchtoster Albtraum widerstreitender Wellen, die sich anbrüllten, anrempelten und aneinander zerbarsten.
Doch Adrian schaufelte Wasser.
Wir sind nicht in der direkten Gefahrenzone. Nur Ausläufer. Gut zu wissen.
Irgendwann – nach Stunden, wie es ihr vorkam – beruhigte sich das Meer wieder. Vielleicht waren es auch nur Minuten gewesen, aber dann die längsten Minuten, die sie je erlebt hatte. Minuten voller Wasser, das sie überspült und bis auf die Haut durchnässt hatte. Dabei fror sie nicht einmal. Es war eher, als sei sie am ganzen Körper narkotisiert worden. Als habe sie jemand vom Hals abwärts mit einem dieser anästhesierenden Sprays eingenebelt.
»Das Schlimmste ist vorbei«, sagte jemand. Adrian. Oder Morley. Egal. Sie waren ja ohnehin nicht in der direkten Gefahrenzone. Sie hatten nur Ausläufer abgekriegt.
Jetzt schwamm überall Eis. Charlotte hob den Kopf, drehte ihn mühsam. Eisbrocken, wohin sie schaute. Trümmer, und alle in ungehaltener Bewegung, als ärgerten sie sich darüber, wie die Dinge gelaufen waren.
Sie zitterte. Es war ein unwillkürliches Zittern, ein Zittern gegen ihren Willen, ein Frieren, das sie ein für alle Mal ergriffen hatte und sich unbarmherzig in ihren Körper fraß.
Es ist vorbei , dachte sie, als ihr auffiel, dass sie ihre Hände kaum noch spürte. So überstehen wir nicht einmal die nächste Stunde, geschweige denn eine Woche.
»Vielleicht …«, begann sie, hustete, sammelte ihre Kräfte und setzte neu an: »Vielleicht sollten wir an Land zurückgehen, was meint ihr? Ist ja nicht gesagt, dass die immer noch hinter uns her sind.« Und wenn doch, dann geht es wenigstens schneller. Das sagte sie nicht.
Adrian neben ihr hielt im Schöpfen inne. Er blickte zwischen ihr und der Insel hin und her, das Gesicht ein Ausdruck des Grauens. »Aber an Land ist doch nichts mehr. Die Hütte ist weg, unsere Sachen sind weg …«
In diesem Augenblick begann es wieder zu rumpeln.
»Oh, nein«, stöhnte Angela. »Nicht noch
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