Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
keinen Kaffee serviert, sondern einen Schal gestrickt. Das konnte man noch viel weniger erzählen. Es hätte geklungen wie beginnender Wahnsinn.
»Für mich sieht es aus wie eine Maschine«, sagte Charlotte also einfach nur.
Morley nahm Angela das Fernglas ab. »Das müsste ja ein riesenhaftes Ding sein, so, wie das nach uns gestochert hat«, meinte er. »Es müsste die gesamte Insel unterwandert haben …Aber das, was die Hütte zertrümmert hat, das ist kein Greifarm oder so etwas gewesen. Das sieht eher aus, als sei da eine zähe Flüssigkeit den Berg herabgelaufen.«
»Eine Maschine, die aus vielen kleinen Teilen besteht, die zusammenarbeiten«, ergänzte Charlotte. »So sieht das für mich aus.« Winzig kleine Teile. Hiroshi hatte die letzten sechs Jahre damit verbracht, Maschinen zu konstruieren, die nur noch aus wenigen Atomen bestanden. So sah es aus. So winzig.
Was, wenn ihm jemand zuvorgekommen war?
Morley ließ den Fernstecher sinken. »Das ist unheimlich. Wir können unmöglich auf die Insel zurück. Wir wissen ja nicht, was uns dort erwartet.« Er sah sich um, betrachtete das Boot, als sähe er es zum ersten Mal, schluckte heftig. »Aber was tun wir dann? Wir haben kaum Sprit, nichts zu essen, nichts zu trinken …«
Ein unheilvolles Schweigen breitete sich aus.
»Wir müssen immer wieder versuchen, einen Notruf abzusetzen«, erklärte Adrian. »Die werden den Funk vielleicht nicht dauernd stören.« So, wie er es sagte, merkte man deutlich, dass er das selber nur für eine höchst theoretische Chance hielt.
Angela räusperte sich. »Unsere letzte routinemäßige Meldung haben wir vorgestern gemacht«, zählte sie auf. »Das heißt, in Rogachevo werden sie die nächste Meldung in fünf Tagen erwarten. Sagen wir, sie fangen an, sich Sorgen zu machen, wenn sie in sieben Tagen immer noch nichts von uns gehört haben – dann müssten wir eine Woche durchhalten.«
»Eine Woche!«, stieß Morley fassungslos hervor. »In diesem Ding hier?«
»Schiffbrüchige haben schon viel länger durchgehalten.«
»Aber nicht im Polarmeer.« Morley rieb sich die Schenkel. »Ich frier jetzt schon! «
Eine Woche? Auch Charlotte kam es völlig utopisch vor, so lange zu viert in dieser Nussschale von einem Gummiboot am Leben bleiben zu wollen. Allein, dass sie nichts zu trinken hatten, würde ihren Tod bedeuten. Doch das behielt sie für sich.
»Darf ich auch mal?«, bat sie und streckte Morley die Hand hin.
Er gab ihr das Fernglas. »Da. Mir wird eh übel, wenn ich da lang durchgucke.«
Charlotte hatte Mühe, das Glas einigermaßen ruhig zu halten. Das Boot unter ihr schwankte, nichts gab einem Halt. Die Insel sah wieder völlig unverdächtig aus. Wenn man nicht gewusst hätte, dass da vor Kurzem noch eine Hütte gestanden hatte, hätte man nicht vermutet, dass irgendetwas Besonderes vorgefallen war.
Es wäre ihr fast lieber gewesen, sie hätte irgendwelche gefährlich aussehenden Maschinen ausgemacht. Die Insel so harmlos vor sich liegen zu sehen gab einem das ungute Gefühl, überreagiert zu haben. War die Bedrohung am Ende schon vorüber, und sie dümpelten völlig unnötigerweise hier draußen auf den kalten Wogen?
Oder – und dieser Gedanke war wesentlich unerfreulicher – sahen sie deshalb nichts, weil sich die Gefahr ganz woanders zusammenbraute, an einer Stelle, die sie nicht sehen konnten? Vor Charlottes innerem Auge entstand das Bild einer Schar großer Klingen, die gerade vom Meeresgrund zu ihrem Boot empor wuchsen.
Sie setzte das Fernglas ab, reichte es Adrian. Morley hatte sich auf den Rücken gelegt, atmete hektisch durch den weit geöffneten Mund ein und aus und zitterte – vor Angst vielleicht, von der Kälte oder von beidem. Selbst Charlotte konnte beides kaum mehr auseinanderhalten.
Sie lehnte sich gegen den Schlauch, den Rücken der Insel zugekehrt, legte den Kopf nach hinten. Die Bilder gingen ihr nicht aus dem Kopf, wie Leon vor ihren Augen verschwunden war, ausgesaugt wie eine reife Frucht, verschrumpelnd, immer weniger und weniger werdend, ohne dass sie irgendwas hätten tun können …
Sie schloss die Augen und fragte sich, ob es wehtun würde zu sterben.Sie schreckte hoch, als jemand sie an der Schulter berührte. Adrian.
»Bin ich eingeschlafen?«, fragte sie verwirrt, griff sich an den Kopf. Der tat weh. Von dem Sturz, richtig.
»Du hast sogar geschnarcht«, erklärte Adrian. »Es ist fünf Uhr früh. Angela und ich haben uns mit der Wache abgelöst.«
Charlotte sah sich um.
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